Der Tag der Traeume
überhaupt ein Kind bekommen hatten, wo sie doch nie beabsichtigt hatten, es selbst großzuziehen, aber sie war nie lange genug bei ihnen gewesen, um ihnen diese Frage stellen zu können – bis Hannah geboren wurde und ihre Eltern für fünf Jahre in die Staaten zurückkehrten. Die damals zwölf-, fast dreizehnjährige Kendall war wieder zu ihnen gezogen, baute aber nie wieder ein Vertrauensverhältnis zu den Menschen auf, die sie zwar bedenkenlos im Stich gelassen hatten, aber ihrer neugeborenen Schwester zuliebe sofort nach Hause zurückgekommen waren. So wurde die Kluft zwischen Kendall und ihren Eltern immer größer, obwohl sie nicht mehr durch Ozeane und Kontinente voneinander getrennt waren, und ließ sich bis zu deren erneuter Abreise nicht mehr überbrücken. Kendall war damals achtzehn und wieder auf sich allein gestellt gewesen.
»Du bist erwachsen geworden.« Ricks Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht.
Der Mann hatte also auch Charme, wenn er wollte. »Du auch«, stellte sie überflüssigerweise fest. Zu einem Prachtexemplar von einem Mann herangereift. Einer, dessen Wurzeln tiefer in dieser Stadt verankert waren als die jedes Baumes. Solche Wurzeln hatte sie selbst nie gekannt, und ein Mann, der sie hatte, bedeutete Probleme für eine Frau, die es nie lange an einem Ort hielt.
»Weiß meine Mutter, dass du heute kommst?«, fragte Rick.
Kendall schüttelte den Kopf. »Nein, das war auch so ein impulsiver Entschluss.« Wie der, ihr Haar färben zu lassen, dachte sie und drehte sich eine pinkfarbene Strähne um den Finger.
Er stieß vernehmlich den Atem aus und schien sich ein wenig zu entspannen. »Ausgelöst durch die geplatzte Hochzeit?«
Sie nickte. »Flucht vor der Ehe in beiderseitigem Einvernehmen.« Dann biss sie sich auf die Unterlippe. »Heute ist absolut nichts nach Plan gelaufen.«
»Schließt das deine Rettung mit ein?«
Sie grinste. »Das war schon ein Erlebnis, Officer Chandler.«
»Allerdings.« Er musste lachen.
Der tiefe, raue Ton löste in ihrem Inneren eine prickelnde Wärme aus.
»Hör zu, ich weiß, es klingt mehr als merkwürdig, aber glaubst du, du könntest die Umstände unserer ersten Begegnung für dich behalten?« Eine zarte Röte breitete sich auf seinen Wangen aus; etwas, was Rick Chandler vermutlich nur sehr selten passierte.
»Bring mich in ein klimatisiertes Haus, ehe ich in der Hitze zerfließe, dann verspreche ich dir, kein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.«
Er hob eine Braue. »Du warst schon eine ganze Weile nicht mehr in Crystals Haus.« Das war keine Frage, eher eine Feststellung, von der sie beide wussten, dass sie zutraf.
Nur dass Kendall die Gründe dafür kannte. Sie schüttelte den Kopf. »Seit Jahren nicht mehr. Wieso?«
Er zuckte die Achseln. »Das wirst du dann schon sehen. Hast du Gepäck im Kofferraum?«
»Ein Bordcase und einen Koffer.« Voll gepackt mit Badezeug und Freizeitklamotten. Sie seufzte. Daran ließ sich im Moment nichts ändern. Sie würde sich später ein paar geeignetere Sachen kaufen müssen.
Er nahm ihr die Taschen ab und verstaute sie in seinem Auto, bevor er ihr höflich seinen Arm bot – eine Geste, die sich nicht mit dem zynischen Gebaren vereinbaren ließ, das er zuvor an den Tag gelegt hatte.
Ein paar Minuten später waren sie unterwegs. Schweiß rann Kendall den Rücken hinunter, und das vermaledeite Kleid klebte an ihrer Haut. Der Wagen verfügte zwar über eine Klimaanlage, aber der kühle Luftstrom trug kaum dazu bei, die unerträgliche Hitze zu mindern. Die unmittelbare Nähe zu Rick Chandler ließ ihre Körpertemperatur drastisch ansteigen, während er für ihre Reize offenbar völlig unempfänglich war.
Während der Fahrt spielte er den Reiseführer, wies sie auf die Sehenswürdigkeiten seiner kleinen Heimatstadt hin, obgleich sie diese Bezeichnung kaum verdienten. Dabei wahrte er stets eine angemessene Distanz. Zu angemessen, dachte sie verärgert.
»Wir sind da«, verkündete Rick schließlich, als er in der Edgemont Street anhielt.
Kendall blickte auf. Aus der Entfernung sah das alte Haus noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte, ein großes Gebäude im viktorianischen Stil mit einer rundherum verlaufenden Veranda und einer weitläufigen Rasenfläche vor dem Vordereingang. Hier hatte sie einst an Teegesellschaften teilgenommen und erste Erfahrungen im Anfertigen kunstvoller Schmuckstücke gesammelt, ehe die Arthritis ihrer Tante all dem ein Ende
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