Der Tag des Königs
Mutter. Ãbertreibe mal nicht.«
»Sie ist nicht mehr meine Mutter. Sie ist weggegangen. Sie ist nicht mehr meine Mutter.«
»Gestern sagtest du, du würdest sie verstehen, du hast sie verteidigt. Warum hast du es dir anders überlegt?«
»Ich bin nicht mehr ihr Sohn. Ich bin es nicht mehr. Für mich ist sie gestorben. Ich sehe ihr Grab nicht. Das meines Vaters, unsichtbar, verborgen, ist hier, in den Trümmern der Gago-Fabrik.«
»Wann ist dein Vater gestorben?«
»Ich weià nicht. Diese Dinge sind mir nicht bewusst. Ich sehe ihn. Er ist ein Leichnam, aber es ist, als wäre er noch am Leben. Er atmet nicht. Er verwest nicht. Er riecht gut.«
»Ein Heiliger?«
»Ein Märtyrer, mein Vater? Ich sehe seinen Leidensweg. Er ist unterwegs. Er läuft. Dabei schlurft er schwerfällig. Er trägt noch immer die Dschellaba seiner Hochzeit. In der linken Hand hat er eine Flasche mit billigem Rotwein. Und in der rechten Hand ein Päckchen La-Marquise-Zigaretten. Er hält es gut fest, er wird es nie loslassen. Er läuft mühsam. Er ist allein. Keine Menschenmenge, nur sein Hassgeschrei. Er protestiert. Er begehrt auf. Er ist endlich er selbst. Er läuft. Keine andere Wahl. Er läuft. Am Ende des Weges eine gigantische Tür, bereits sperrangelweit offen. Die Flammen, die Geräusche des geheimen Kriegs. Das Gemetzel. Das Gemetzel, von dem ich eben sprach. Sie richten die Leute hin. Junge. Alte. Ganz Marokko. Noch offene Massengräber. Die Heere des Verbrechens sind bei der Arbeit. Sie brauchen Blut.«
»Und .â.â. dann .â.â. Sprich weiter, Omar, sprich weiter.«
»Es ist Schluss. Es flieÃt immer mehr Blut. Hier ist Schluss. Hier, wo wir sind, du und ich. An der Felswand. Am Abgrund. Er wird springen, mein Vater.«
»Wird er kämpfen?«
»Er wird springen.«
»Bringt er sich um? Er kann sich nicht umbringen. Denn so wird er nicht zu einem Heiligen.«
»Sie verfolgen ihn. Er wird springen. Er wird springen. Er springt. Er springt. Der Sturz ist unendlich lang. Unendlich lang. Er wird auf den Boden prallen.«
»Wende den Blick ab, wende den Blick ab. Sieh ihn nicht an. Nicht mehr.«
»Kann ich nicht. Kann ich nicht.«
»Komm zurück, komm zurück zu mir, Omar.«
»Kann ich nicht, kann ich nicht.«
»Doch, doch, du kannst. Komm zurück zu mir, zu mir, Khalid, Khalid, deinem Freund.«
»Er hat mich mitgerissen. Ich hefte mich an seine Dschellaba, ich klammere mich an ihm fest. Wir fallen zusammen. Er ist mein Vater. Wir müssen zusammenbleiben. Zusammen. Leb wohl. Leb wohl. Leb wohl, Khalid. Das ist das Ende. Ich bin am Ende. Sie haben gewonnen.«
»Omar .â.â. Omar .â.â.«
»Leb wohl .â.â. leb wohl .â.â.«
»Komm zurück zu mir, komm zurück, komm zurück .â.â. Auch ich brauche dich .â.â. Komm zurück .â.â. Omar .â.â. Omar .â.â.«
»Das ist das Ende.«
»Mach die Augen auf. Mach die Augen auf.«
»Das ist das Ende.«
»Omar .â.â. Omar .â.â. OMAR .â.â.«
»Das ist das Ende.«
Die Brücke war leer.
Ich weià nicht mehr, wie wir dort auf dieser Brücke, die ich so sehr mochte, gelandet waren. Die gebrochene Brücke. Die verbotene Brücke. Die Brücke der Säufer und der abgebrannten Liebespaare.
Wir waren noch immer in Unterhosen. Wir waren barfüÃig. Alle restlichen Sachen in unseren Schultaschen.
Die Sonne blickte uns von der anderen Flussseite aus an. Ihr Licht hatte sich verändert, ein wenig verhangen, aber nach wie vor grell, wenn nicht noch greller. Der Tag neigte sich dem Ende zu, doch es war noch heiÃ. Khalid und ich waren halbnackt und trieften vor SchweiÃ. Die gebrochene Brücke bot keinen Schutz vor dieser unerbittlichen Sonne.
Wir waren am Ende der Brücke, dort, wo sie aufhörte, dort, wo man sie zertrümmert hatte.
Wir waren in der Mitte des Flusses. Im wahrsten Sinn des Wortes zwischen zwei Welten, zwei Städten, zwei Hügeln. Zwei Kriegen. Zwei Zivilisationen. Zwei Marokkos.
Zwei in der Luft schwebende Körper, die bald vom Abgrund, vom Wasser aufgesogen werden würden.
Wir waren wieder getrennt, in der Stille. Wir betrachteten Rabat genau gegenüber. Die ganze Stadt bot sich stolz unseren Blicken dar. Die Oudaïa-Kasbah. Der Hassanturm,
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