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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abdellah Taïa
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in dem sich das Grab von König Mohammed V . befindet. Das überdimensionierte Gebäude der marokkanischen Post. Die Glockentürme der Kathedrale. Das Viertel der Ministerien. Die endlos lange Mauer von Touarga, die den Königspalast gebührend verbarg. Die Ruinen von
Chellah, diese erhabenen Ruinen, wo man einst zahlreiche Könige unterschiedlicher Dynastien begraben hatte. Ich betrachtete sie mit einem Stich Freude im Herzen. Ich liebte sie, diese Ruinen, ohne sie je besichtigt zu haben. Der Arabischlehrer, der ein Faible für mich hatte, hatte mir eines Tages gesagt, Chellah sei das schönste und stimmungsvollste Bauwerk Marokkos. Man konnte dort die Überreste mehrerer Zivilisationen bestaunen: der Phönizier, der Römer, der Muslime. Ihre Gärten waren geheimnisvoll, dunkel und unvergesslich. Ihre Heiligen, vier an der Zahl, so gut wie unbekannt, waren mächtig, jeder auf seine Art. Und das in den Fels gehauene Bassin mit den heiligen und dämonischen Aalen war laut meinem Lehrer der eigentliche Ursprung aller Kräfte, die Rabat und Salé beherrschten.
    Der Arabischlehrer schwärmte für die Ruinen im Allgemeinen und für die von Chellah im Besonderen. Er sagte zu mir, er wolle der Erste sein, der sie mir zeigt, er wolle seine Leidenschaft weitergeben, mich auf andere Art und Weise in die Geschichte einweihen, mich in eine geheime, von der Sonne vergessene Welt einführen.
    Ich hasste Rabat. Ich hatte Angst vor Rabat. Ich verfluchte Rabat.
    Ich liebte vor allem Chellah.
    Chellah war nicht Rabat. Chellah rächte mich an Rabat, das seit Jahrhunderten die Kokette, die Stolze, die Versnobte mimte. Chellah distanzierte sich von Rabat. Seine Ruinen befanden sich außerhalb der Hauptstadt, doch sie lagen einem Eingang von Touarga gegenüber, dessen Mauern den Königspalast verbargen, in dem in der folgenden Woche Khalid empfangen werden sollte.
    Ich wandte mich ihm zu. Meinem Freund Khalid. Seine Augen waren geschlossen. Sein Körper war steif, kalt, los
gelöst von meinem. Sein Körper war erneut hochmütig geworden. Egoistisch. Er war wieder in seiner ersten Welt angelangt.
    Und ich begriff. Khalid war mein Feind. Ich war sein Feind. So stand es geschrieben. Nichts konnte diesen tödlichen Ausgang mehr ändern. Auch ich schloss die Augen. Um mich für den letzten Kampf besser zu rüsten. Die letzte Runde. Das letzte Kapitel. Einer gegen den anderen. Was folgen sollte, war berechtigt. Logisch. So ist das Gesetz, es gibt immer nur einen Gewinner. Was folgen sollte, war Liebe. Verdammte Liebe, ohne Gott und ohne Mutter, um sie zu beschützen.
    Es war ein Krieg. Ohne Worte. Außerhalb der Welt. Am Anfang von allem. Jenseits von mir. Jenseits von Khalid. In Gestalt von uns beiden begann der ursprüngliche, unschuldige, wilde, freie Kampf von neuem.
    Die gebrochene Brücke war unser Theater. Ohne Zuschauer. Ohne Regisseur. Das Böse hatte wieder von uns Besitz ergriffen. Jeder empfing es mit geschlossenen Augen auf seine Weise.
    Ich stieß ihn hinab. Er selbst verlangte es von mir.
    Er betrachtete den Königspalast und befahl mir unaufhörlich: »Stoß mich runter, stoß mich runter bis zum Palast des Königs. Stoß mich runter. Ich will fliegen. Stoß mich. Stoß mich.«
    Ich hielt mich zurück. Ich tat so, als ob ich mich zurückhielte. Ich zögerte. Ich erweckte bei ihm den Eindruck, ich würde zögern. Ich nahm Anlauf und stieß ihn hinab. Mit voller Wucht. Indem ich meine ganze Wut bündelte.
    Ist es wirklich so gewesen?
    Dieses Mal hatte er das Schweigen gebrochen.
    Von den ersten Worten an hatte ich begriffen, dass alles, was wir gerade erst intensiv zusammen erlebt hatten, dieser Austausch, dieses Verschmelzen, diese Verwandlung, dieser Pakt, dieser dunkle und in uns auf ewig verwunschene Wald, die von Dschinns bewohnten Bäume, die für uns und von uns beiden neu erfundene Welt, nun nicht mehr zählte.
    Er schlug die Augen auf. Er war bereits im Palast. Ich war nicht mit ihm dort. Weder in seinen Gedanken noch in seinem Herzen. Wie tags zuvor in der Schule, als der Direktor uns angekündigt hatte, dass Khalid vom König empfangen werden würde, war ich vergessen. Ich existierte nicht mehr.
    Er fragte mich Folgendes: »Wie muss ich nächste Woche dem König die Hände küssen?«
    Ohne nachzudenken, antwortete ich: »Mach es wie in Der Pate . . . dem Film.«
    Er

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