Der Tag des Königs
wunderte sich, dass ich den Film kannte. Niedergeschlagen frischte ich sein Gedächtnis auf. »Du hast ihn mir doch gezeigt, letztes Jahr, zu Hause in deinem Zimmer. Dein Vater hatte dir aus Paris die Kassette mitgebracht. WeiÃt du nicht mehr?«
Er wusste es nicht mehr. Er war noch immer mit den Gedanken woanders, auf der anderen Seite des Flusses, inmitten von bedeutenden Leuten, von Reichen, die nie einen Gedanken an Geld verschwendeten. Seine Augen sahen Hassan II . Meine waren ins Dunkel gerichtet.
Hingerissen und besessen setzte ich meine Provokation fort.
»Du solltest meinem Rat folgen, Khalid. Der Pate ist ein groÃer Film, das hast du zu mir gesagt. Die Hauptfigur, die am Schluss stirbt, heiÃt .â.â. Ich habe ihren Namen vergessen.«
»Don Corleone.«
»Er ist toll, nicht wahr? Nächste Woche solltest du die Hand von Hassan II . küssen, wie Don Corleone im Paten die Hand geküsst wird. Das ist origineller. Und damit auch schicker. Der König wird dir mehr Beachtung schenken.«
»Meinst du?«
»Ganz sicher!«
»Besser, ich verhalte mich wie alle anderen.«
»Hast du Angst?«
»Ãhm .â.â. Habe ich Angst?«
»Ich glaube, du hast Angst.«
»Hassan II . muss man ernst nehmen. Ich will nicht, dass es wie in dem Traum läuft, den du mir gestern erzählt hast.«
»Das war kein Traum. Das war ein Alptraum.«
»Ich will diesen Alptraum nicht erleben.«
»Du hast nichts zu befürchten. Du gehörst ja schon zur Familie.«
»Zu welcher Familie?«
»Man könnte meinen, deine Intelligenz sei einfach weg, Khalid. Bis nächste Woche ist noch Zeit. Du bist noch nicht beim König. Du bist mit mir zusammen. Mit mir, Omar. Hier auf der gebrochenen Brücke. Komm zurück zu mir.«
»Aber ich muss mich vorbereiten, proben. Hassan II . ist mehr als ernst zu nehmen, er ist heilig.«
»Also gut. Einverstanden.«
»Womit?«
»Mit dir zu proben.«
»Wirklich?«
»Ich spiele Don Corleone. Du küsst mir die Hände.«
»Und ich?«
»Du spielst dich selbst.«
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Ich stieà ihn hinab.
Er stürzte in die Tiefe. Der Fluss Bou Regreg empfing ihn, umschlang ihn, liebte ihn über alle MaÃen.
Ich höre und sehe diesen Augenblick noch immer. Khalids Körper, der mit dem Wasser des Flusses zusammentrifft. Eine Hochzeit. Ein gewaltiges schrilles Juchzen, das eine unbekannte, im Himmel versteckte Frau ausstöÃt. Ein sanftes »Plaaaatsch«.
Ich stieà ihn hinab. Ich muss es noch einmal sagen. Er selbst verlangte es von mir.
Er war mit sich selbst zufrieden. Erleichtert. Glücklich. Wir hatten den königlichen Handkuss gut einstudiert. Ich hatte Don Corleones Rolle gut gespielt.
Khalid war überglücklich. Euphorisch. Er befand sich noch immer im Palast von Rabat, er schlenderte durch
seine endlosen Gänge auf der Suche nach dem Blick des Königs. Er war endgültig getrennt von mir.
Ich war nicht ich. Ich war noch in der Haut des sizilianischen Paten in New York. Ich hatte die Macht. Der Name des Schauspielers, der Don Corleone spielte, fiel mir wieder ein. Marlon Brando.
Ich war Marlon Brando. Ein alter Mann, der Stil hatte und grausam war. Ein unwiderstehlicher, groÃzügiger, erbarmungsloser, blutrünstiger alter Mann.
Khalid sah mich nicht. Er erkannte Don Corleone, Marlon Brando in mir.
Khalid war hingerissen, voller Dankbarkeit, voller Begierde. Er schritt auf mich zu und küsste mich. Auf den Mund. Mit der Zunge. Lange. Mit geschlossenen Augen nahm ich seinen Mund, seine Lippen in mich auf. Und traurig, verbittert spielte ich brutal mit seiner Zunge.
Er protestierte nicht.
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Ich stieà ihn hinab. Ich schenkte ihm meine Flügel. Meine Kraft. Meine Wut. Meine Liebe und meine Eifersucht.
Ich trat so weit wie möglich zurück. Khalid befand sich am äuÃersten Ende der Brücke. In der Flussmitte. Er betrachtete den Palast.
Fast hätte ich verzichtet. Ihn nicht hinabstoÃen. Ihn nicht zerstören. Uns nicht trennen. Fast wäre ich wieder vernünftig, freundlich, zärtlich geworden. Schwach. Fast, jawohl.
Ich wartete. Ich sagte mir: Wenn er sich umdreht, gehe ich nicht ganz vor, lasse ich ihn nicht springen. Wenn er sich umdreht. Wenn er sich meiner besinnt und sich zu mir, für mich umdreht, rette ich ihn, werde ich wieder zu einem Engel, nur zu einem kleinen Teufel, dem kleinen
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