Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Oder haben sie ihre Namen gewechselt, so dass er sie nicht finden konnte?“
Edwina gab ein leises Grunzen von sich, das wohl als Gelächter interpretiert werden konnte. „Emily, du darfst nicht in so begrenzten Dimensionen denken, wenn es um Vampire geht. Namen und Telefonbücher sind in der heutigen Zeit sicher eine Hilfe, doch das Vampirvolk ist auf diese menschlichen Hilfsmittel nicht angewiesen. Roy ist damals wie heute nur einem gefolgt: seinem Geruchssinn. Menschliches Blut riecht, auch wenn es keine Wunden an einem Körper gibt. Und jede Familie hat ihren eigenen, spezifischen Duft. In leichten Varianten natürlich, aber der Grundgeruch ist immer derselbe.“
„Dann… dann hat er die anderen auch noch gefunden?“ Emily hatte, von der Geschichte ergriffen, vorübergehend verdrängt, dass es sich um ihre eigenen Familienmitglieder handelte.
Ein wissendes , trauriges Lächeln huschte über das Gesicht von Emilys Großtante. „Denk doch mal nach, Emily. Außer dir ist niemand mehr übrig. Was glaubst du wohl, ist passiert, hm?“
Plötzlich schien der Raum zu eng für sie zu werden. Warum war sie darauf nicht selbst gekommen? Was hatte Edwina eben gesagt: Roy ist damals wie heute seinem Geruchssinn gefolgt? Was sollte das heißen: wie heute?
Sie war die letzte der Familie, und ihre Mutter war nicht einmal zwei Woche n tot… ihr wurde schlecht.
„ Entschuldige, ich muss…“ Statt den Satz zu beenden, musste Emily stark würgen, und Edwina zeigte ihr verständnisvoll den Weg ins Bad.
Völlig außer sich hielt Emily ihren Kopf über das WC und übergab sich mehrmals heftig, bevor sie sich schwer atmend auf den Badewannenrand fallen ließ und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Irgendetwas stimmte an der Geschichte nicht, doch sie kam nicht drauf, was es war.
Die junge Frau stand auf, ging mit zittrigen Knien zum Waschbecken und klatschte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Lange sah sie ihr Spiegelbild an, von dem nur noch ein Schatten ihrer selbst übrig war.
Und plötzlich wusste sie, was nicht stimmte. Sie drehte das Wasser ab und ging langsam ins Wohnzimmer zurück. Ihre Schritte waren zaghaft, und die plötzliche Angst, die sie verspürte, ließ ihr das Herz bis zum Halse schlagen. Als sie den Wohnraum betrat, war ihre Tante schon aufgestanden und lächelte sie freundlich an.
„ Geht es dir wieder besser? Du siehst aus, als wäre dir noch eine Frage eingefallen.“
Emily nickte und blieb gebannt im Türrahmen stehen. „Du weißt schon, was ich dich fragen will, oder?“
Edwina wies die junge Frau an, sich wieder zu setzen.
„Eigentlich hast du zwei Fragen: D u willst wissen, warum ich sagte, du wärst die letzte Watson, die übrig ist. Und du hast dich gerade gefragt, warum ich nicht steinalt bin.“
Es stimmte. Emily hätte die zweite Frage beinahe vergessen, aber ihr Unterbewusstsein hatte an dieser Tatsache zu knabbern gehabt. Auch fiel ihr jetzt plötzlich wieder auf, dass die Küche völlig unbenutzt war.
„Du kennst die Antwort schon, Emily. Ich werde es trotzdem aussprechen , damit du es wirklich glaubst: I ch gehöre auch zum Vampirvolk. Schon seit über dreißig Jahren. Das Foto von mir, das du bei dir hast, ist das letzte, was von mir gemacht wurde. Und das andere Foto…,“ sie deutete auf das Gruppenbild, „wurde lange davor gemacht, als zwei Idioten sich nicht schnell genug aus dem Staub gemacht haben . Vampire können zwar ihr Spiegelbild sehen, aber nicht fotografiert werden. Ich weiß auch nicht, woran das liegt. “
„Das macht doch überhaupt keinen Sinn.“ Emily schüttelte den Kopf.
„Menschen bringen sich jeden Tag gegenseitig um. Das macht auch keinen Sinn, trotzdem tun sie´s.“
Edwina nahm das Bild noch einmal in die Hand und betrachtete es amüsiert. Sie schien nicht zu bemerken, wie panisch Emily nach einem Weg suchte, dieses Gespräch und das Treffen schnellstens zu beenden. Wenn ihre Großtante tatsächlich eine Vampirfrau war, konnte sie sich hier nicht sicher bewegen. Vielleicht war sie nur hierher gebeten worden, damit sich der Fluch endlich erfüllte. Doch zu Emilys Überraschung reagierte Edwina auf sie, ohne dass sie ein Wort gesagt hatte.
„Emily, ich tue dir nichts. Du bist hier in absoluter Sicherheit. Ich habe noch nie einen Menschen getötet, und ich werde jetzt nicht damit anfangen.“
Emily Watson stand auf und ging nervös im Wohnzimmer auf und ab, wobei sie beinahe ein großes Porzellanpferd umgerissen hätte.
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