Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
Innerlich kochte sie, und schon wieder hatte sie das Gefühl, mehr Fragen als Antworten zu haben. Und dass sie nun wusste, dass ein Vampir namens Roy ihr Leben bedrohte, hatte jeden Rest von Geduld in ihr vernichtet.
„Tante Edwina, sei mir nicht böse, aber ich habe jetzt wirklich die Nase gestrichen voll! Vor knapp zwei Wochen ist meine Mutter gestorben, und ich hatte eigentlich nur vor, ihr Haus zu verkaufen und wieder nach New York zu gehen. Dann bekomme ich seltsame Hinweise und muss eine ausgesprochen gruselige und unheimliche Schnitzeljagd starten, bei der nebenbei bemerkt schon ein Mensch ums Leben gekommen ist, der mit all dem nichts zu tun hat, nur um jetzt hier zu erfahren, dass meine einzige lebende… dass meine einzige Verwandte eine Vampirfrau ist, und ich, als einzige Überlebende der Familie Watson, von einem Vampir namens Roy verfolgt werde, der nichts weiter vorhat, als mich ins Jenseits zu befördern! Und dann erzählst du mir irgendwas von diesem Gruppenfoto, was ich nicht verstehe und sagst mir, dass dein Foto über dreißig Jahre alt ist, dabei siehst du jünger aus als damals! Streng genommen dürfte es das, was du mir da erzählst, alles gar nicht geben! Wenn du wirklich bist, was du behauptest, existierst du rein wissenschaftlich überhaupt nicht! Und jetzt hätte ich wirklich verdammt gerne ein paar detaillierte Antworten! Warum siehst du so jung aus? Und was ist mit den zwei Menschen auf dem Foto da passiert? Und…“
„Emily! Setz dich. Du bekommst deine Antworten, aber um Himmels Willen, setz dich und hör auf, dich aufzuregen. Willst du noch einen Tee?“
„Trink du doch einen! Vielleicht kannst du mir damit ja beweisen, ob du wirklich eine Vampirfrau bist!“
In dieser Sekunde sah Emily, wie Edwinas Augen plötzlich rötlich zu leuchten begannen. Sie wich schlagartig an die Wand zurück und hielt den Atem an. Als die Frau nun ihren Mund öffnete, sah Emily Fangzähne, die sich wie von Zauberhand aus ihrem Kiefer schoben, bis sie beinahe dreimal so lang waren wie normale Eckzähne. Spitz wie Scheren-Enden ragten sie zwischen den Lippen hervor und glänzten im Licht der Wohnzimmerlampe.
„Wie… zum Teufel… hast… du… das…“
„Glaub s t du mir jetzt ?“ Die Vampirfrau ließ ihre Zähne noch einmal aufblitzen, doch so schnell, wie sie sie ausgefahren hatte, verschwanden sie anschließend auch wieder.
„Entschuldige. Das passiert, wenn wir Hunger haben oder wütend werden.“
„Und das gerade ist vor Wut passiert , hoffe ich.“
„Ja. Aber selbst bei Hunger… ich falle keine Menschen an. Und erst Recht nicht dich. Emily, eins sollte dir klar sein: I ch bin deine beste Lebensversicherung, denn auch ich bin ein Opfer des Fluchs. Und ich würde alles, was noch von mir übrig ist, geben, um dein Leben zu schützen. Damit Roy keine Chance hat, seinen Fluch vollendet zu wissen.“
Ihre Nichte nickte. Sie glaubte ihr und setzte sich schließlich langsam wieder hin, wenn auch weiter von ihr entfernt als zuvor. „Was soll das heißen, dass du ein Opfer des Fluches bist? Du bist nicht tot. “
„Roy hat nicht alle Mitglieder unserer Familie getötet, weißt du. Die meisten hat er in kalter Rache erwischt und sofort kurz und schmerzlos beseitigt. Doch es gab auch ein paar, die sich heftig gewehrt haben. Das hat seine Wut geschürt, und er wollte sie leiden lassen. Und wie kann man einen Menschen am besten leiden lassen? Indem man ihm sein Leben nimmt, und es ihm doch lässt. Ich habe es Roy schwer gemacht . Das habe ich jetzt davon. Ich habe es früher geliebt, in der Sonne spazieren zu gehen. Ich war den ganzen Tag draußen. Ich habe gerne gekocht, mich mit Freunden getroffen. All das kann ich jetzt nicht mehr. Die Sonne tötet uns, menschliches Essen vergiftet uns , ebenso wie Silber . Und nebenbei bemerkt sind Vampire äußerst brennbar. Und seit ich nur noch abends in der Dunkelheit das Haus verlasse, haben sich die meisten meiner Freunde von mir abgewandt. Ich bin einsam. Aber nicht einsam genug, um Roy gewinnen zu lassen und mich dem Volk anzuschließen.“
Emily nickte langsam und begann, sich wieder ein wenig zu entspannen.
„Unsere Familie war groß, Emily. Sehr groß. Doch Roy hat sie sich alle geholt im Laufe der Jahr hunderte . Jeden, den er finden konnte. Manche hat er zu Vampiren gemacht und mit sich genommen. Andere hat er getötet und einfach liegen gelassen . Die, die man getötet aufgefunden hat, wurden anständig in der Familiengruft
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