Der Tag ist dein Freund, die Nacht dein Feind (German Edition)
begriffen Männer anscheinend gar nichts. „ Roy!“
„Kannst du bitte mal in ganzen Sätzen sprechen? Was musst du? ... Oh.“ Endlich blitzte es in seinen Augen auf. „Verstehe. Entschuldige. Geh da hinter den nächsten Baum. Aber nicht weiter weg. Hier gibt es nämlich Vampire. Zumindest einen.“
Roy zwinkerte Emily verschmitzt zu, und für einen Sekundenbruchteil spürte sie ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Wie war es möglich, dass eine so gefährliche Kreatur, ein Vampir, der sich in Rage in etwas verwandelte, das so zum Fürchten war, gleichzeitig so charmant sein konnte?
Er drehte sich nun doch verlegen um. Der Vampir tat dies weniger, um Emily ein wenig Privatsphäre bei ihrem ‚Geschäft’ zu ermöglichen, sondern vielmehr, damit sie die Wandlung seiner Augen nicht sehen konnte. Lange hatte er keinen Scherz mehr gemacht. Seit Jahrhunderten war er zu niemandem mehr wirklich freundlich gewesen. Dass er sich nun so spontan dafür geöffnet hatte, ausgerechnet dieser Menschenfrau gegenüber, die seiner Vivienne in so vielerlei Hinsicht ähnlich war, erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen. Ihre Wärme hatte sich gut angefühlt während des Flug s , und ihr Gewicht in seinen Armen zu spüren, sie beschützen zu können , hatte etwas in ihm geweckt, dass er vergessen und gestorben geglaubt hatte.
Die Stimme der Menschenfrau riss ihn aus seinen Gedanken.
„Okay. Fertig. Wir können.“
Als er sich umdrehte, musste Roy unwillkürlich lachen. Emily hatte sich eine dicke Winterjacke angezogen und die gefütterte Kapuze über ihren Kopf gezogen, den Kragen vorne zu geknöpft.
„Hey, lach nicht! Da geht kein Luftzug durch , alles hermetisch abgedichtet ! Außerdem hab ich noch eine Hose drunter gezogen und zwei Paar Socken. Frieren werde ich da oben garantiert nicht mehr!“ Damit zog sie sich auch noch dicke Handschuhe an.
Roy glaubte ihr aufs Wort. Bei ihrem Anblick glaubte er auch nicht, dass ihm in ihrem Beisein je wieder kalt sein würde, in Anbetracht der Hitze, die sich langsam in seinem Inneren ausbreitete. Dass Emily in diesem Moment doch den verräterischen , rot schimmernden Glanz in seinen Augen zur Kenntnis nahm , bemerkte er nicht.
Sie schloss verlegen ihre Reisetasche und gab sie an Roy weiter, der sie sich über die Schultern hängte. A ls sie dieses Mal dicht an Roy trat, um sich an ihm festzuhalten, fühlte es sich anders an als Stunden zuvor. Sie spürte die intensive Hitze, die von dem Vampir ausging, durch ihre dicke Jacke hindurch, und wusste, dass Roy ihr Herzklopfen hören konnte. Schweigend hielten sie sich aneinander fest, als sie zusammen durch die Baumkronen hindurch in den Nachthimmel hinauf schossen.
12
Das ungleiche Paar erreichte die Highlands kurz vor Sonnenaufgang. Emily hatte Wort gehalten und war nicht wieder ohnmächtig geworden. Dafür wurde sie mit einer unglaublichen Aussicht auf die ur tümliche Landschaft belohnt, über der noch das bleierne Grau der Nacht lag. Eine Weile folgten s ie dem River Spey, überflogen Ballindaloch Castle, bis Roy die Richtung schließlich änderte und tiefer ging, als sie das Örtchen Rathes erreicht hatten.
Es war ein Ding der Unmöglichkeit für Emily gewesen, sich derart lange an ihrem Begleiter fest zu krallen, weshalb er schon vor einer ganzen Weile einen Arm fest um ihren gelegt hatte und sie mit übernatürlicher Leichtigkeit mit sich trug , auch wenn es das Fliegen etwas erschwerte . Emily fühlte sich sicher bei ihm und bemerkte, dass sie wider Willen anfing, ihm zu vertrauen.
Dass er sie vor der VHA gerettet hatte, konnte genauso bedeuten, dass er die letzte Watson lieber persönlich töten wollte, weil sie ihren Auftrag nicht zu seiner Zufriedenheit erfüllt hatte. Doch etwas in ihr zweifelte daran. Sie glaubte an sein Versprechen, ihr die Freiheit zu schenken.
„Ich werde dich nicht töten, du kannst diese Sorge getrost vergessen.“ Es war eine trockene Bemerkung, und Emily schrak zusammen. Roy hatte wieder ihre Gedanken gelesen.
„Wenn du vor mir verbergen willst, was in dir vorgeht, sieh dich vor und konzentriere dich darauf, deine Gedanken zu verschließen. Andernfalls musst du damit leben, ein offenes Buch für mich zu sein.“
Wenige Minuten später setzte Roy endgültig zur Landung an. Gerade rechtzeitig, da im Osten bereits die erste Morgenröte am Horizont zu erkennen war. Emily war vollkommen übermüdet und hoffte inständig, dass es in dem Anwesen, das sie gerade anflogen, ein bequemes
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