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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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gelaufen war, in dessen Kopf der Splitter manchmal schmerzte und der sie ermutigt hatte, den Führerschein zu machen. Zwei Menschen, denen die historische Erfahrung anhaftete und sie durchdrang, sodass diese Zeitschichten ihres Lebens für Helen fühlbar präsent waren, von Anfang an, für die sie ein Ohr hatte, weil sie ihr vertraut waren, in den Anekdoten, den Verhaltensweisen, den Gefühlen überhaupt, einer Atmosphäre, die Helen manchmal, als ihre Töchter groß genug dafür waren, ihnen mitzuteilen suchte, oder den jungen Männern, die sich zwanzig Jahre nach seinem Tod Julius als Vorbild auswählten und ihr schrieben, die sie fragten, wie ist dieser Mann geworden, was er war. Er hat in einer bestimmten Zeit gelebt, sagte Helen, er hat eine historische Erfahrung gemacht, die ihn geprägt hat, er hatte, wie viele dieser Generation, der um 1930 Geborenen, das Bedürfnis, aus ihrem Land wieder etwas zu machen, etwas Gutes, nach all dem Leid, das es anderen zugefügt hatte, und die dann im Nachhinein als Wirtschaftswundergeneration bezeichnet worden waren. Ein Student, Ende zwanzig, hatte Helen fast ungläubig angesehen, als sie die Dreißigerjahre beschrieb, und Helen war klar geworden, dass es in seiner Erfahrung diese fühlbare Anwesenheit, die sie bei ihren Eltern, dem Großvater, Julius, und auch anderen Älteren, gefunden hatte, nicht mehr gab. Nicht als Atmosphäre, nicht als Lebensgefühl, nicht als Haltung.
    Auch ein Betriebswissenschaftler, der nur zehn Jahre jünger war als Helen selbst und der einen Vortrag über Julius bei den Rotariern halten wollte, schien weit fort von diesen Dingen. Er schickte ihr einen Fragenkatalog, aus dem hervorging, dass ihn vor allem interessierte, ob das Geheimnis von Julius’ Erfolg seine moralische Haltung gewesen sei und – letztlich – wie man diese nutzbar machen könnte. Helen drehte sich der Magen um. Moral » um zu«: Was sollte das denn sein? Nutzbar, effektiver, erfolgreicher? Der junge Mann bemängelte bei ihrem Telefonat die Kulturlosigkeit seiner Kollegen, sie wüssten ja noch nicht einmal, was » ein kleines Schwarzes« sei und bei welcher Gelegenheit eine Frau dieses Kleid zu tragen habe, und lachte auf joviale Weise.
    Helen wurde still. » Julius Turnseck«, sagte sie wie zu sich selbst, als käme ihr in diesem Augenblick erst diese Einsicht, » interessierte sich eigentlich gar nicht für Geld.« Er war nur etwas verantwortungssüchtig, dachte sie, so hatte ein Kollege ihn genannt, und in diesem Sinne eben doch machtsüchtig. Macht, so hatte Julius in einer Rede geschrieben, sei nicht an sich gut oder schlecht; sie diene nur einem guten oder schlechten Zweck. Das konnte nur jemand sagen, der sie ganz selbstverständlich hatte, Macht; so wie Julius gern das Wörtchen fraglos benutzte, weil er sich seiner eigenen Argumentation so sicher war. Und doch: Julius hatte ein Korrektiv; seine historische Erfahrung. Wie Helens Vater, auch wenn sie anders aussah.
    Oh grande Mussolini, Heil der Faschistico, wir fraßen Maccaroni am Titimagico …
    Von Schneidemühl hatte Helens Vater manchmal gesprochen, seiner Heimat, oder von der Stadt mit dem seltsamen Namen Deutschkrone, Kreis Preußische Ostmark, deutsch-polnisches Grenzgebiet, Pommern. Man sprach eine südostpommersche Mundart; bei Helens Vater kam immer etwas Berlinerndes durch. Ümmer statt immer, kieken statt gucken, alles, was Helen in Berlin vertraut vorkam. In den letzten Jahren vor seinem Tod fuhr er zu Heimattreffen. Wenn Helen ihn fragte, » wie war’s?«, brummte er immer nur » schön«. Er war als Junge, mit siebzehn Jahren, noch eingezogen worden, zu den Fallschirmspringern, abgeworfen über der umzingelten, teilweise schon brennenden Stadt Breslau, 1945. Wie Julius sprach er ungern über sich selbst. Wie Julius musste Helen ihm alles aus der Nase ziehen.
    » Ich bin nicht wichtig«, sagte Julius immer. » Nur, was ich tue.«
    Wenn Julius nach dem Tod des Großvaters anrief, versuchte er Helen zu trösten, auch, als er merkte, wie nahe Helen der Infarkt ihres Vaters ging. Wenn Julius anrief, sammelte Helen in ihrem Kopf alles Benennbare zusammen, das ihr in den letzten Tagen begegnet war, in Zeitungsartikeln, an der Universität, die sie weiterhin besuchte, auf der Straße. Sie hatte Mühe damit. Sie erzählte ihm, was sie las, aber nicht, dass sie Sachen an die Wand warf, um sie zerspringen zu sehen. Dass sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, wenn sie an ihren Großvater dachte, und jedes

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