Der Tag ist hell, ich schreibe dir
westlichen Unternehmen und Banken. Etliche der Berichte waren an Schalck-Golodkowski mit dem Vermerk » zur persönlichen Verwendung« versehen.
Es gab Protokolle von informellen Treffen mit westdeutschen Bankiers, Vertretern von Sparkassen und dem Chef der Bundesbank.1986 hatte der Chef der Bundesbank die Führung der SED darum gebeten, während der Weltbanktagung auch Teilnehmer in Ost-Berlin unterzubringen, die Kapazitäten im Westteil reichten nicht aus, man erwarte zwölftausend Menschen. Man sonnte sich in dieser Anfrage. » Durch Nutzung der DDR -kulturellen Sehenswürdigkeiten und Dienstleistungen«, hieß es, » soll das Niveau und die Anziehungskraft von Großkongressen in WB erhöht werden.«
Helen machte sich Notizen. Zwischendurch ging sie in die Garderobe der Behörde, zog sich einen Kaffee aus dem Automaten und aß eine mitgebrachte Stulle im Freien vor der Tür. Große Flocken Schnee fielen, sie legte den Kopf in den Nacken und ließ sie ihr Gesicht kühlen. Dann kehrte sie zurück in den Lesesaal.
Es gab zahlreiche Verbindungen zwischen Mitarbeitern westdeutscher Banken und deren Vertretungen in anderen Ländern mit den Mitgliedern der Deutschen Handelsbank und der Deutschen Außenhandelsbank der DDR . Helen notierte Namen, etliche auch von der Deutschen Aufbau, Lowitz, Baumann; nicht jedoch Julius’.
Helen wusste noch sehr genau, wie oft Julius sie nach allem gefragt hatte, was die DDR betraf, sogar die Hausarbeiten ihrer Freundin Antje-Doreen hatte sie ihm schicken müssen, er wollte alles lesen, um sich über die Entwicklungen im Osten ein eigenes Bild zu machen. Er begleitete Ernst Lowitz immer häufiger nach Moskau, nahm schließlich selbst Gespräche mit Gorbatschow auf und unterzeichnete wichtige Kreditverträge gemeinsam mit Lowitz, bevor dieser aus dem Amt schied. In seinen Erinnerungen tat Ernst Lowitz so, als wäre er der einzige Mann, der mit dem Osten verhandelt und eine wichtige Rolle gespielt hätte, was Helen überraschte. Sie staunte noch mehr, als sie herausfand, dass auch andere Wirtschaftsleute, die mit der DDR oder dem Ostblock zu tun gehabt hatten, sich selbst als » heimliche Außenminister« der Bundesrepublik betrachtet hatten und auch so von anderen genannt worden waren. Ein ganzes Kabinett von außerordentlichen Außenministern fand sich da zusammen. Solche Männer wie Ernst Lowitz aber, die sich leidenschaftlich mit der russischen Sprache und Kultur vertraut gemacht hätten, blieben die Ausnahme, von späteren Nachfolgern in der Bankenwelt einmal ganz zu schweigen.
Komplizierte Transaktionen beförderten westdeutsches Geld über die Konten von DDR -Bürgern im Westen, von denen es erstaunlich viele gab, in den Osten und umgekehrt; zahlreiche Firmen wurden genutzt, Gelder hin- und herzubewegen; Helen wurde schwindelig angesichts der Summen, die herumgeschoben wurden. In den zur selben Zeit entstandenen Strategiepapieren hieß es, dass sich die BRD am Vermögen der DDR » bereichere«. Etliche dieser Berichte waren mit dem Namen Thiel unterzeichnet. Thiel wies immer wieder auf die » Krise des Kapitalismus« hin. Er betonte, dass die DDR über einen ausgeglichenen Haushalt verfüge – während Helen auf anderen Blättern deutlich lesen konnte, dass das Gegenteil der Fall war.
Schließlich entdeckte Helen Hinweise auf eine Kreditvergabe der Deutschen Aufbau an die ehemalige DDR in Höhe von 800 Millionen DM im vorletzten Jahr ihrer Existenz, die nicht in der Öffentlichkeit bekannt geworden war; nicht ersichtlich war jedoch, welches Mitglied des Vorstands federführend gewesen war. Und sie fand den Bericht, von dem Wilfried Lerner gesprochen hatte, in dem das Verhalten der westdeutschen Großbanken analysiert und Julius Turnseck als ein bedeutender und weitsichtiger Kopf hervorgehoben wurde.
Nichts aber fand sie über jene Abhörvorgänge auf der Karteikarte. Keine » Analyse« seiner Person, kein Protokoll über eine Begegnung mit ihm, nichts.
5
Helens Großvater starb in jenem Jahr, 1986, und kurze Zeit später erlitt ihr Vater einen Herzinfarkt. Ihr Großvater, der ihr so viel vom Krieg erzählt hatte, von zwei Weltkriegen, von seinen Gefangenschaften, von der verlorenen Heimat. In dessen neu angelegtem Garten hinter dem Golf Club sie herangewachsen war und dessen Schoten im Garten sie gegessen hatte, der für sie da gewesen war, wenn die Eltern im Geschäft schwer arbeiten mussten und keine Zeit für sie hatten. Ihr Vater, der von Breslau zu Fuß nach Berlin
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