Der Tag ist hell, ich schreibe dir
und er spürte ihren Körper.
» Wann wirst du wieder lustig, Helen?«, flüsterte er.
Helen zuckte die Achseln.
» Ich finde es nicht schlimm, traurig zu sein«, sagte sie beim Essen. » Es ist nicht so anstrengend, wie du denkst, es war viel schlimmer, als ich mich die ganze Zeit anstrengte, es nicht zu sein. Ich hatte immer Kopfweh.«
» Mh«, machte Julius. » Ist es jetzt weg?«
» Es ist nicht weg, aber es ist nicht mehr jeden Tag da.«
Sie wusste, dass er sie dieses eine Mal nicht wirklich verstand. Eine Psychotherapie? War das nötig? Ich bin nicht wichtig, war seine Maxime. Der Einzelne ist nichts, nur wenn er dem deutschen Volke dient, ist er. Erst kurz vor seinem Tod würde Julius einmal weinen, weil man dieses sein Ich nicht verstand.
6 Ost-West
Helen hatte in ihrem Kalender manchmal knapp Julius’ Namen notiert, sie hatte in ihren Tagebüchern immer wieder einmal ein Gespräch skizziert oder eine Wendung aus einem Brief abgeschrieben. Sie sprachen so oft miteinander, dass es ihr nicht nötig schien, Dinge aufzuschreiben, und zum anderen schrieb sie ja Briefe an ihn. Sie stürzte sich in ihr Studium und die Stadt. Die Seiten, die sie in ihren Tagebüchern füllte, bezogen sich auf die Freundinnen, die sie sah, die Bücher, die sie las, die Ausstellungen und Filme, in die sie ging, die jungen Männer, in die sie sich verliebte. Sie verliebte sich oft und heftig. Über die Liebe und die Lektüre schrieb sie am meisten. Julius gehörte völlig selbstverständlich zu ihrem Leben. Auch wenn sie sich nun seltener sahen.
27.1.1987
Lieber Julius,
ich danke dir von ganzem Herzen für die schönen Bücher und deine liebe Karte! Wie sehr ich mich gefreut habe, wird dir mein Traum erzählen, den ich letzte Nacht hatte: Es tummelten sich eine Menge Freunde bei mir in der Wohnung. Du bist zwischen ihnen herumgelaufen, und du hattest langes, lockiges Haar, das dir bis auf die Schulter fiel, und du sahst wild und fröhlich aus. Du kamst zu mir, hast mich gepackt und herumgewirbelt und auf deinen Armen hochgehoben, ich lachte vor Vergnügen – und du hast auch gelacht – – –
Als Helen vom Fest ihrer Großmutter Ende Februar 1987 zurückkam und kurz vor Mitternacht in der Friedrichstraße dem Grenzbeamten gegenüberstand, mit einem dicken grauen Karton, in dem sich Reste von zweierlei Geburtstagstorte für ihre Freunde befanden, fragte der Grenzer sie in freundlichstem Sächsisch: » Nu, hods Ihnen bei uns nisch gefollen?« –
» Doch«, beteuerte Helen, » wieso?«
» War die Feier nisch schee?«
» Doch. Deshalb komm ich ja so spät.« Helen klopfte das Herz. Sie dachte an Antje-Doreen und einen Raum ohne Klinke an der Tür.
» Nu, gucken se mo, Frolleinschen, was schdehd hierr?« Er zeigte auf ihr Visum.
» Was meinen Sie denn?«
» Das Da-dum!«
Helen blickte angestrengt auf das schlechte gelbe Papier. » Erster März Neunzehnhundertsiebenundachtzig.«
» Nu? Machts glingeling?«
» Nee, nich wirklich.«
» Se hädden bei uns die Nacht verbringen können.« Er grinste.
» Ja, also, ich versteh gar nichts mehr.«
» Bei besonderen Familienangelegenheiden gibt’s neuerdings ne Übarnachdung gradis.«
» So was Dummes!«
» Allerdings. Das hädden Ihre Verwandten aber wissen müssen! Nu isses zu spät. Oder wollen Sie zurückfohrn?« Er grinste.
» Ja, wie denn?«
» Na, dann mal guude Nacht.«
Das Ausflugslokal der Großeltern lag einige Kilometer hinter der Kreisstadt Strausberg, im Wald. Der Onkel war schon seit längerer Zeit nicht mehr als Reiseschriftsteller unterwegs gewesen, und Helen und ihre Eltern waren auch nicht mehr regelmäßig zu Besuch gefahren. Seit sie die Weihnachtsferien wegen des Zwangsumtauschs und vielleicht auch anderer Gründe, die Helen naturgemäß nicht durchschauen konnte, da die Erwachsenen immer sonderbare, undurchschaubare Gründe hatten, nicht mehr bei den Großeltern verbracht hatten, hatte Helen, solange sie noch bei ihren Eltern lebte, jedes Jahr zu Weihnachten ein Päckchen von ihrer Großmutter erhalten, auf das sie sich jedes Mal sehr freute: holzgeschnitzte Eulen, Rehe und Hasen oder eine chinesische Lautenspielerin, ein Rauchmännchen aus dem Erzgebirge, ein illustriertes dickes Buch mit Tierfabeln oder Zirkusgeschichten, und später Romane und Gedichte, von Eva und Erwin Strittmatter, Günter Kunert, Oskar Panizza und anderen. Die Farben des Einwickelpapiers waren blasser als die im Westen, die Muster wie von Hand gemalt, und immer legte die
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