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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Großmutter einen mit Puderzucker bestreuten Tannenzweig hinein, sodass das Päckchen gut roch.
    Die Besuche im Ausflugslokal hatten bis auf einige, in der Erinnerung verblasste Ausnahmen, im Winter stattgefunden, sodass sich Helen die DDR immer genau so vorstellte: als ein stilles weißes Paradies, mit tief verschneiten Wäldern. Stundenlange Spaziergänge hatten ihre Mutter, die Tante und sie als kleines Mädchen gemacht, in ihrer Kapuze hatte sie ihren Proviant getragen, und die beiden Frauen hatten während des Wanderns gesungen und gelacht. Helen sollte sich später allerdings nur an zwei Lieder erinnern: Tulpen aus Amsterdam und Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen. Abends hatten sie in der Wohnung der Tante und des Onkels am Kamin auf einem echten Fell gesessen, von einem Tier, das der Onkel selbst geschossen hatte, und wenn Helen schließlich ins Bett musste, wo sie die ungewohnten Gerüche und Geräusche tief in sich aufnahm, bildete sich etwas Vertrautes in ihr.
    Vielleicht glaubte sie deshalb später, als sie Romane aus der DDR las, vieles zu erkennen. Sie erinnerte sich an den Geruch im Schankraum der Gastwirtschaft mit den Holzbänken, den bestickten Tischdecken und dem Herd in der Küche, der mit Holz befeuert wurde, und an den Geschmack des selbst gemosteten Apfelsafts.
    Kindheitserinnerungen fragen nicht nach Staatsformen oder der Haltung eines Regimes, dachte Helen, als sie ihre Reise von Westberlin zur Mühle vorbereitete, weil die Großmutter ihren Achtzigsten feierte und sie ihre Eltern und die ganze Familie dort treffen würde. Ein Satz, an den sie wieder denken musste, als sie später mit den alten Herren über die Reichsschule in Feldafing sprach und diese ihre Erinnerungen so vehement gegen die Dokumente von Historikern verteidigten, die ihnen Helen vorlegte.
    Wie viele Jahre war sie nicht dort gewesen? Bald zehn? Konnte das sein? Sie erinnerte sich dunkel an die Fahrten als Kind, nach Strausberg, im Trabi ihres Großvaters, über vereiste Waldwege und holpriges, rutschiges Pflaster, an der Kaserne vorbei, als sie sich damals jeden Tag polizeilich melden mussten, als Besucher. Jetzt hatte Helen selbst den Antrag für das Tagesvisum für die Einreise in die DDR gestellt, in der Jebenstraße, neben dem Bahnhof Zoo, so wie sie es manchmal tat, wenn sie in den Ostteil der Stadt wollte. Sie hatte das Formular ausgefüllt, ihren Berliner Ausweis vorgelegt und die abgezählten 25 DM . Am Tag danach hatte sie ihr Visum abgeholt, war mit der S-Bahn vom Savignyplatz zur Friedrichstraße gefahren, hatte die Prozedur des Grenzübergangs über sich ergehen lassen, wie immer mit einer Mischung aus Trotz, Angst und unbegründet schlechtem Gewissen, war wieder in die S-Bahn gestiegen, Richtung Strausberg.
    Später konnte sich Helen an die lange Tafel erinnern, an der Verwandte und Freunde saßen, ein riesiges U, das den ganzen Schankraum ausfüllte, und an die ausgelassene Stimmung und die Reden für ihre Großmutter, die sich das Haar frisch schwarz gefärbt hatte und mit funkelnden Augen in die Runde blickte. Sie konnte sich an viele Gesichter erinnern, die sie nicht kannte und die deshalb in der Erinnerung zu tanzenden hellen Flecken wurden, und daran, dass sie mit ihrem Cousin geflirtet hatte, der etwas älter und sehr liebenswürdig war, und dass immerzu irgendjemand aufstand und lange Worte über ein langes Leben machte.
    Und noch später, als Helen an ihre Zeit mit Julius dachte, fragte sie sich, welche verborgenen Andeutungen die Gäste in ihren Reden wohl in Hinblick auf die herrschenden Verhältnisse gemacht hatten, doch damals war sie in der Zeit und nicht in der Geschichte, in ihrer eigenen Lebens- und Erfahrenszeit, sie war vierundzwanzig Jahre alt, und sie hatte sich von ihrem Cousin trotz einiger Gläschen was auch immer durch Eis und Schnee in seinem Trabi nach Strausberg zur S-Bahn bringen lassen, und immer wieder hatte er gesagt, jetzt müssen wir uns aber ranhalten, sonst kriegste die nicht, und dann muss ich mit dir bis Berlin fahren, was ja auch ganz schön wäre, eigentlich, aber die anderen würden sich dann sorgen, und ich muss doch noch helfen, alles im Griff zu behalten, das hab ich versprochen. Und dann hatte er ihr ganz im Vertrauen gesagt, dass er sie auch gern mal besuchen würde und dass die Stimmung mies wäre, und er hatte sie vielsagend angesehen, und Helen hatte genickt, ich verstehe, ich verstehe, gemurmelt und sich richtig scheiße gefühlt, dass sie ihren

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