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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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teilte.
    » Nein, nein, nein«, hatte Helen geantwortet, » das kann nicht sein, du wirst sehen, die anarchischen Kräfte werden sich durchsetzen. Außerdem ist die DDR genauso pleite wie die Sowjetunion, die werden bald aufgeben. Willst du nicht doch mit mir zusammen nach Berlin ziehen?«
    » Nicht solange die Mauer steht. Letzte Nacht hab ich geträumt, dass wir eine Prüfung ablegen mussten, du und ich, vor einem ZK -Gremium. Wir mussten einen Spagat auf einem Tisch machen, splitterfasernackt, und ich fiel in Ohnmacht. Mich kriegste da nicht hin.«
    4 Akten
    Die Zeit verfliegt, das Gedächtnis verliert sich, Sie erinnern sich nicht mehr, gedacht zu haben.
    Denis Diderot, Die Verräter (Les bijoux indiscrets). Experimental-Metaphysik.
    Helen hatte vergessen, was Julius ihr im Einzelnen über seine Kollegen erzählt hatte. Sie erinnerte sich an Fetzen, Bemerkungen, seinen Wunsch, sie solle einmal bei einer seiner Vorstandssitzungen Mäuschen spielen. Viele dieser Dinge kehrten zurück, als sie im Dezember 2009 im Archiv der SED in Lichterfelde war, im Süden von Berlin, in einem großen Backsteingebäude, zu dessen Betreten sie eine Erlaubnis brauchte, um in alten Akten zu stöbern, vergilbte Blätter und brüchig gewordene Seiten umzuwenden. Mehrere Tage verbrachte sie dort; draußen brach der Winter herein, mit Kälte und Schneegestöber.
    Ernst Lowitz, der Julius mit nach Moskau genommen hatte, tauchte mehrfach auf; er gehörte zur Riege der hochgebildeten Gentleman-Bankiers der alten Schule. Älter als Julius, ein Zwanzigerjahrgang, war er im Zweiten Weltkrieg als Offizier in Russland eingesetzt worden, als Flieger, wie Helens Vater, nur dass ihr Vater erst siebzehn gewesen war. Lowitz war abgestürzt und wäre an seinen schweren Verletzungen fast gestorben, doch man hatte ihn in der Gefangenschaft gut behandelt und gesund gepflegt, er überlebte. Seine Geschichte hatte Ähnlichkeit mit der von Joseph Beuys, an die Helen sofort denken musste, als sie Ernst Lowitz’ Memoiren las. Kuriose Parallelen, unfassbar verschiedene Lebensläufe. Filz und Fett hier, Dax und Dividende dort. » Letzte Warnung an die Deutsche Aufbau«, hatte Beuys eine seiner Kunstaktionen genannt; Helen hatte die Postkarte davon Julius einmal geschickt. » Ich kenne sie«, hatte Julius gesagt, » wir haben auch einige Arbeiten von ihm in unserer Sammlung.«
    Jedenfalls hatte Lowitz diese Erfahrung in Russland mit » Dankbarkeit und großer Achtung gegenüber dem Feind erfüllt«, und er hatte angefangen, die Sprache zu lernen, und sie später weiter ausgebildet. Sein Schwerpunkt in der Arbeit der Bank wurde die schwierige Zone hinter dem Eisernen Vorhang und alles, was diese direkt oder indirekt berührte. Er hatte bereits Anfang der Siebzigerjahre durchgesetzt, eine Filiale der Bank in Moskau einzurichten; und er hatte sich in verschiedenen politischen wie wirtschaftlichen Gremien dafür stark gemacht, über Finanzierung und Handel die Teilung der Welt zu überwinden. Konkurrenz fürchtete er so wenig wie Julius Turnseck; beide waren der festen Überzeugung, Konkurrenz sei immer und in jedem Fall gut, für das Geschäft, für die Erfindung, für die Menschen; sie halte die Dinge in Bewegung und bilde gewissermaßen eine der Säulen der Freiheit, auf denen die Demokratie beruhe. Vielleicht sah Ernst Lowitz in Julius Turnseck einen Mann, der ein ähnliches historisches Gedächtnis hatte wie er, der großes Interesse an der deutschen Wiedervereinigung zeigte und nicht vergessen wollte, was Deutschland im Krieg verbrochen hatte.
    Helens Frage veränderte sich. Welche anderen Gespräche waren abgehört worden? Hatte ihr Inhalt womöglich etwas mit Julius’ Ermordung zu tun?
    Helen fand in den dicken Ordnern des Archivs, an denen rosa Aktenschwänze mit schwarzen Buchstaben und Ziffern hingen, die riesige Korrespondenz und Dokumentation des Büros von Alexander Schalck-Golodkowski, dem Leiter der Kommerziellen Koordination der DDR , kurz KoKo genannt. Sie griff sich diejenigen heraus, deren Stichworte ihren Interessen am nächsten zu kommen schienen, zu den deutsch-deutschen Bankbeziehungen. Tag um Tag blätterte sie die Fluten von Abrechnungen durch, Kontobewegungen, Jahresberichten und Strategiepapieren. Die Strategiepapiere waren am aufschlussreichsten. Sie lieferten in streng marxistischer Manier Analysen der westlichen Devisen- und Geldmärkte direkt an die Genossen Honecker und Mittag, außerdem Leitlinien für das Verhalten gegenüber

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