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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Mal, wenn sie mit ihrem Vater telefoniert hatte und seine Stimme so schwerfällig klang. Wenn er sich deutlich anstrengen musste, überhaupt zu sprechen. Wenn die Stimme ihrer Mutter einsam klang. Sie sagte ihm nicht, dass sie sich zusammenreißen musste, um ihre Aufgaben als studentische Hilfskraft zu erledigen und die Lektüre für ihre Seminare. Dass in ihrem Kopf Stimmen summten, redeten und weinten. Dass sie ihr vorwarfen, nicht bei den Eltern zu sein und ihnen beizustehen. Dass sie ihr sagten, wie elend diese sich fühlten und wie verlassen. Stimmen, die sie mit Erlebnissen bedrängten, die nicht Helens waren und die Helen auch nicht kannte, und die an anderen Tagen fort blieben, sodass sich eine große Stille ausbreitete, in der sie sich fühlte wie ein Kind, das sich in die Ecke eines großen Raumes drückte und darauf wartete, dass ein Unheil geschah.
    Dinge fielen ihr aus den Händen, sie ließ sie liegen. Schwere Träume quälten sie, sie blieb liegen. Eines Tages stürzte sie, als sie auf einen Stuhl stieg, ohne zu wissen weshalb. Sie lag eine Weile ohne Atem auf dem Boden. Ihre Rippen schmerzten so stark, dass sie einen Arzt aufsuchte. Der Arzt stellte eine Prellung fest, und Helen sagte ihm, dass sie ununterbrochen Kopfschmerzen hätte, die ganze Zeit, und manchmal sei sie des Lebens entsetzlich müde. Der Arzt überwies sie zu einer Psychotherapeutin. Später sagte Helen manchmal: Die 68er waren in Hinblick auf die Geschichte ihrer Eltern aggressiv, meine Generation ist depressiv. Wir gehen zum shrink und suchen Versöhnung.
    Dreimal die Woche ging Helen zu Frau K. Sie legte sich auf die Couch, über der ein Bild mit einer undeutlichen Landschaft hing. Sie sprach und schwieg, beantwortete Fragen. Frau K. saß hinter ihr, mit einer Stola über die Schultern gelegt, und hörte zu. Manchmal machte sie zustimmende, mitfühlende oder fragende Laute. Zu Hause nahm Helen Wasserfarben und bemalte viele Blätter mit dem Nichts, als das sie sich fühlte. Sie nahm sie mit zu Frau K. Frau K. sah sich die Bilder genau an. » Dafür, dass da nichts ist, ist ja eine ganze Menge los«, sagte sie. Da musste Helen lachen. Und dann weinen.
    Sie strich ihre Wohnung, jedes Zimmer in einer anderen Farbe. Sie kaufte Ölfarben, Leinwände und Pinsel. Wenn sie malte, gab es kein Richtig oder Falsch, kein Besser oder Schlechter. Sie las Gedichte von Christine Lavant und Unica Zürn und alle Bücher von Virginia Woolf. Sie las Bücher von diesen Schriftstellerinnen, die als verrückt galten. Christine Lavant, Tochter armer Leute in einem einsamen Kärntner Tal, die mit Gott zürnte und schweigen lernen wollte wie die Steine in der Nacht, die ihren Mund nicht halten konnten. Unica Zürn, die eine Zeile Buchstaben erfand und sie zu weiteren Zeilen neu zusammensetzte, Anagramme, als bekäme sie so eine Übersicht über die ihr zerfallende Wirklichkeit. Virginia Woolf, die Romane schreiben wollte wie große Musik und die in der Sprache ihre luzide Wahrnehmungsfähigkeit zu beschwichtigen suchte, mit der sie Tautropfen an Grashalmen herabrinnen hörte und die sie schließlich in die Stille unter Wasser zwang.
    Helen entwickelte eine eigentümliche Härte und Weichheit zugleich.
    Helens Zeit stand still, und Julius’ Zeit raste. Er setzte in der Bank alles daran, zum einzigen Sprecher des Vorstands zu werden. Er riss Entscheidungen an sich.
    Julius und Helen trafen sich, der außerordentlich irritierende Höhepunkt einer gemeinsamen Abwesenheit von Fröhlichkeit, wie Helen es in ihrem Tagebuch nannte, etwas, was sie miteinander nicht kannten und womit sie kaum zurechtkamen. Helen stand vor Julius im Hotel Kempinski wie eine Fremde, oder wie eine, die jahrzehntelang verschollen war und nun verändert vor ihm stand, im einfachen weißen T-Shirt zu ihren Jeans, mit noch kürzer geschnittenem Haar. Ihre Augen kamen ihm unheimlich vor, wie er ihr später sagte, sie aber atmete ruhig und gleichmäßig und sagte, wie froh sie sei, ihn zu sehen.
    Julius war auf sie zugekommen, er sprang nicht die Treppe herunter, wie bei ihrem ersten Treffen, er ging halb gebremst, als wüsste er nicht, wie er ihr begegnen würde, oder sie ihm, doch dann streckte er die Arme aus, und sein fragender Gesichtsausdruck wich einem verlegenen, liebevollen Lächeln.
    Sie umarmten einander; Julius zog sie an sich, wie jedes Mal, wenn sie sich sahen, und legte einen Moment lang seinen Kopf an ihr Gesicht, an ihr Ohr, er roch an ihrem kurzen Haar, an ihrer Kopfhaut,

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