Der Tag ist hell, ich schreibe dir
sagen. Jetzt aber bestand die Möglichkeit, dass sie von Abhörprotokollen – allein das Wort! – ihrer Lücken überführt wurde, ihrer Unfähigkeit, sich zu erinnern, von der sie ohnehin überzeugt war, und etwas entblößt wurde, das ihr lieb und teuer war.
Denn das Schlimmste war, dass jemand Facetten ihrer Gespräche mitgehört haben könnte, die einem Fremden lächerlich, peinlich, anrührend oder entblößend oder sonst wie erscheinen mochten, ihn aber im Grunde und vor allem absolut gar nichts angingen.
3
» Ich habe jetzt schon seit zwei Wochen keinen Brief erhalten, was ist denn nur los?«, fragte Julius am Telefon. » Bist du mir böse? Habe ich dich verstimmt und weiß nichts davon?« 1986, im Sommer. Ausweichen und Vertrautheit.
» Nein«, sagte Helen, » ich kann es gar nicht erklären. Ich muss über so vieles nachdenken, ich kann es gar nicht in Worte fassen. Ich bin so viel unterwegs und lese so viel für die Uni.«
» Mh«, machte Julius, es klang besorgt. » Ist es etwas Schlimmes, worüber du nachdenkst? Hast du Kummer? Bist du mir böse, weil ich nicht kommen kann? Willst du mich nicht mehr sehen?«
» Ach, Julius, wie sollte ich dir böse sein? Du kannst doch nichts dafür. Und natürlich wäre es schön, dich bald zu sehen.«
Ein Moment des Schweigens. Etwas ist anders geworden. Sie wissen es, sie können es nicht sagen.
» Ich will sehen, dass ich es einrichte, aber hier staut sich alles. Ich muss nächste Woche am Montag nach Washington fliegen und am Dienstag zurück, um am Mittwoch mit Ernst Lowitz nach Moskau zu fliegen. Er wird in absehbarer Zeit aus dem Vorstand ausscheiden, wie du ja weißt, und er möchte, dass ich die Verbindungen zur Sowjetunion übernehme.«
» Ich verstehe, natürlich.« Wie kommt man aus der Befangenheit wieder heraus?
» Es ist zu ärgerlich, dass ich kein Russisch spreche, ich habe es angefangen, mit Kassetten, aber meine Zeit reicht einfach nicht.«
» Hast du denn keinen Dolmetscher?«
» Doch, doch, selbstverständlich, die Dinge sind ja zu heikel für irgendwelche Ungenauigkeiten, aber du weißt doch, wie es ist, ein paar Worte in der Landessprache, und das Eis ist gebrochen.«
» Die paar Worte lernst du doch leicht, k arascho heißt gut, tschai heißt Tee und piva Bier. Und wenn dir was nicht gefällt, sagst du einfach njet. Und wenn dir mal wieder alles zu langsam geht, rufst du: dawai, dawai! Na, jetzt wiederhol mal!«
Julius lachte und wiederholte die Worte. Helen, erleichtert, nicht über ihre undurchschaubaren Empfindungen sprechen zu müssen, erzählte ihm von ihren letzten Gesprächen mit Antje-Doreen, in München, im Schelling-Salon. Sie hatte versucht, ihre Freundin zu überreden, mit ihr nach Berlin zu ziehen. Sie hatten an den langen Holztischen gesessen und den Männern beim Billard zugesehen. Antje-Doreen hielt Vorträge in Volkshochschulen, vor Lehrerkollegien, sogar bei der Bundeswehr, und erklärte, dass und wieso die DDR eine Diktatur sei und dass sich daran nichts ändern werde. Sie berichtete über die Verbesserungen an den Grenzübergängen, die ihrer Meinung nach winzig, im Grunde lächerlich und doch von Bedeutung seien. Sie erzählte von ihren Erfahrungen in der Schule, erklärte geduldig, was Jugendweihe war und welche Lieder sie als Kind gesungen hatte, und sie wurde es nicht müde, von der Zensur, von den Repressalien, denen Regimekritiker ausgesetzt waren, und dem Wunsch vieler Menschen nach der Wiedervereinigung zu sprechen. Der Höhepunkt war die Schilderung ihrer eigenen Flucht, mit ihren Eltern über die tschechische Grenze. Denn nachdem Antje-Doreen diese jahrelang verschwiegen und geheim gehalten hatte, hatte sie begriffen, dass diese Erzählung stärker als alle Fakten war, um die Leute davon zu überzeugen, was für ein System die DDR war und wie man sie einzuschätzen hatte. » Sie müssen an die Menschen denken«, sagte sie seither am Ende immer, wenn ihren Zuhörern die Tränen ohnehin schon in den Augen standen.
Helen und Antje-Doreen hatten sich die Köpfe über Russland heißgeredet, über » Glasnost« und » Perestrojka«, doch während Helens Hoffnung den Jüngeren galt, hatte Antje-Doreen gesagt: » Die Sowjetunion ist die Nachfolgerin des Zarenreiches. Sie ist ein großer, schwerfälliger Koloss, der sich nicht verändern wird. Glaub mir das. Die Leute brauchen jemanden, den sie verehren können, auch wenn er sie quält. Vielleicht gerade wenn er sie quält.« Eine Ansicht, die Julius
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