Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Glück sahen sie selten fern, und das Leben konnte ungestört weitergehen. Wir buken Roggen mit Haselnuss und Honig und beugten uns wie immer bei duftendem Kaffee über unseren Marx.
Der Anruf kam prompt am nächsten Tag. Aus Kanada. Man habe ihm gesagt, es sei ein Brief gekommen, er könne ihn aber erst lesen, wenn er wieder im Lande sei. Er sei schon sehr neugierig. Er habe so viele Fragen.
» Zum Beispiel?«
» Zum Beispiel: Sind Sie ein Punk?«
Ich lachte, und er musste auflegen.
In Wirklichkeit war ich gar nicht so frech, wie ich tat. Ich las Turgenjew, Kafka, Kierkegaard, Camus und grübelte viel. Zum Beispiel über die Frage, warum die deutsche Geschichte so verlaufen war, wie sie es getan hatte, und weshalb sich die Menschen gegen Hitler nicht gewehrt hatten, insbesondere die Juden gegen ihre Ausgrenzung, und, nebenbei, warum ich so viele Kilo Gemüse in meinem jungen Leben putzen musste, auch wenn dieser Gedanke auf einer anderen Ebene lag, aber meine Gedanken wanderten gerade beim Gemüseputzen gern hin und her.
Ich hatte den Holocaust mit der Muttermilch aufgesogen, das klingt sarkastisch, aber ich nehme diese Dinge sehr ernst; junge Menschen behaupten ja gern, sie sagten etwas ganz normal, auch wenn jeder, der es hört, bestätigen würde, dass es gerade ziemlich rüpelig klang. Wir hatten in der Schule ab der sechsten Klasse gelernt, dass die deutsche Identität seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vom Bewusstsein der Shoa bestimmt war und dass Deutschland kein Nationalgefühl haben dürfe, weil das deutsche Nationalgefühl sechs Millionen Juden das Leben gekostet hatte. Ich hatte kein Nationalgefühl und ich weiß bis heute nicht, wie sich das anfühlt, es fehlt mir auch nicht. Als ich fünfzehn war, zeigte man uns in der Schule einen Film über die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch amerikanische Soldaten. Ich weinte bitterlich. Nicht ich allein, ich möchte ausnahmsweise und ohne jede vereinnahmende Geste sagen, meine Generation: Wir erbten das tiefe Schuldgefühl unserer Eltern und derer, die noch älter waren als unsere Eltern und nicht aus jüdischen Familien kamen und damit Nachkommen der Täter – und schlimmer noch – Täter waren, von denen sehr viele behaupteten, keine gewesen zu sein, und nur wenige es tatsächlich nicht waren, einfach, weil sie zu jung gewesen sind.
Opa sagte immer, vieles wäre nicht geschehen, hätten die Leute sich informiert. Opa erzählte am meisten von früher. Er hatte den Ersten und den Zweiten Weltkrieg erlebt; meine Eltern den Zweiten, als sie noch sehr jung waren, vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Mama war mit mir in den Ort gefahren, in dem sie nach dem Krieg drei Jahre in einem Flüchtlingslager gelebt hatte. Ihre Erlebnisse von damals bestimmten ihr Leben.
Damals stellte ich mir vor, dass es ein Erziehungsproblem war – das mit dem Sich-nicht-wehren-gegen-Hitler. Ich weiß, dass man politische Probleme nicht individualisieren soll, aber ich dachte, dass früher Kinder so oft mit Liebesentzug bestraft worden waren, dass sie als Erwachsene gar nicht mündig werden konnten, sondern liebesbedürftige Kinder blieben. Die es an ihre Kinder weitergaben, weil sie gerade im Umgang mit ihnen eigene Ohnmachtsgefühle wiedererlebten. Dies war nicht allein auf meinem eigenen Mist gewachsen, dies war vielmehr der zweite Grundzug unserer Bildung: das Nachdenken über das Weitergeben von Erziehung und sozialer Prägung. Wir hatten nämlich neben unseren älteren, streng preußisch orientierten Lehrern viele junge Lehrer, die gerade von der Uni kamen und zu den 68ern gehörten und für die das Wort Kritik oder auch Gesellschaftskritik mit lebhafter Emphase gefüllt war und die mit uns solche Fragen lebhaft diskutierten. Ich las die Zeitung, wie Opa es mir empfahl, und stellte fest, dass es ein Wiedererstarken rechtsextremer Gruppen gab. Ich schrieb einen glühenden Leserbrief an ein Wochenmagazin, in dem ich den Zusammenhang zwischen Liebesmangel und Desorientierung herstellte, und er wurde zu meiner Überraschung gedruckt. Meine Eltern freuten sich. Sie waren voller Hoffnung. Ich war ein nettes Mädchen und hatte mich nie gegen meine Eltern aufgelehnt (was meine Mama natürlich anders sah). Stattdessen las ich, wenn ich auf den nächsten Serviergang wartete, die Schriften von Albert Camus, dem existenzialistischen Philosophen, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, seine Essays über Gerechtigkeit und die schwierige Stellung des Künstlers
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