Der Tag ist hell, ich schreibe dir
zwischen Selbstbewahrung und Kommunikation. Ich grübelte über die Frage, ob ich mich den Künsten oder dem Journalismus und der Politik zuwenden sollte. Schließlich musste ich bald entscheiden, was aus mir werden sollte. Meine Launenhaftigkeit beinhaltete Selbstzweifel ohne Ende. Hinzu kam noch mein Talent, mich alle Nase lang in einen anderen Jungen zu vergucken. Mit meinen Freundinnen war es etwas schwierig. Meine beste Freundin, Nadja, hatte sich in unseren Kunstlehrer verliebt und war in unserem Haus nicht mehr allzu gern gesehen, nachdem sie mit dem rosa Lippenstift meiner Mama an den Badezimmerspiegel » Eigentum verpflichtet« geschrieben hatte. Meine andere Busenfreundin, Carina, hatte sich mit ihrem Vater überworfen, weil sie sich in einen jungen Kommunisten verliebt hatte, der Sartre besser fand als Camus, was nur Ärger geben konnte, vor allem nachdem Sartre den Terroristen Andreas Baader im Gefängnis besucht hatte und ihr Vater Carina vor die Wahl gestellt hatte: Er oder ich. Mit meinem Gesparten, das ich ihr ohne zu zögern überreicht hatte, und besagtem jungen Mann war sie durchgebrannt und arbeitete nun in einer Gärtnerei auf dem Land, während ihr Freund das Abitur machte. Danach wollten sie tauschen. Meine dritte Busenfreundin, Luisa, die im Schulhof immer Gitarre gespielt hatte, während wir inbrünstig dazu Blowin’ in the Wind und andere Lieder von Bob Dylan, Joan Baez und Leonard Cohen schmetterten oder hauchten, hatte nach einer neben der Schule angefangenen, verheißungsvollen Ausbildung zur Opernsängerin an ihrem 18. Geburtstag einen Bundeswehroffiziersaspiranten geheiratet und alles hingeschmissen. Das Abitur vor allem. Und zwar nur, um ihrer sizilianischen Mutter zu entgehen, die zwei Köpfe kleiner war als wir und die, wie ich fand, eine fantastische Pizza backen konnte.
Diese Einzelheiten erzählte ich Jonathan Kepler natürlich nicht, doch während ich mit ihm sprach, trat mir diese Zeit so plastisch vor Augen, als sähe ich einen alten, vertrauten, nur vergessenen Film, und in der Nacht träumte ich davon. Am nächsten Tag, als die Kinder in der Schule waren und ich nicht arbeiten konnte, weil ich an Julius denken musste, suchte ich im Keller das Tagebuch, in das ich vorne das Jahr 1982 geschrieben hatte, und blätterte darin. Es war ein schwarz glänzendes Buch mit roten Ecken, innen liniert, made in China, wie es die meisten Mädchen damals benutzten. Allein der Anblick weckte bei mir die Erinnerung an Erlebnisse, die für diese Zeit wie für mich selbst charakteristisch waren, vor allem aber eine ganz bestimmte Atmosphäre. Eine Atmosphäre wie aus Neil-Young-Liedern und dem Geschmack von Früchtebrot, wie aus dem Duft von Frühlingsregen und der singenden Stimmung jugendlicher Herden beim Evangelischen Kirchentag. Zugleich sah mich meine krakelige, schwer leserliche Handschrift wie die einer Fremden an. Ich entzifferte meine eigenen Notizen zu Büchern, die ich damals gerade las, Musik, die ich hörte, Anmerkungen zu Fernsehsendungen, die ich gesehen hatte, Freundinnen und Freunden, die ich traf. Dinge, über die ich mit Julius sicherlich auch geredet hatte, weil sie mich beschäftigten und er mich nach ihnen fragte. Alles schien mir ungeheuer weit entfernt, und zugleich sprang es hoch wie der Teufel aus der Kiste, als ich es las. Wie lange hatte ich nicht mehr an den Elsässer Platz gedacht, den ich täglich nach der Schule überquert hatte, um zum Bus zu gehen? Wie ungerührt war ich später an ihm vorbeigefahren, wenn ich meine Eltern in Bad Wildbad besuchte, weil mich nichts mehr mit ihm verband?
Doch am Abend vor meiner ersten Verabredung mit Julius hatte ich auf diesem Elsässer Platz im Wind gestanden, vor dem Haus der Jugend, und plötzlich war er wieder da, der weite, dunkle Platz, der von Sand bedeckt war und auf dem hin und wieder ein Jahrmarkt seine Buden aufschlug, und mit ihm die Stimmung von diesem regnerisch kühlen Abend Ende Februar.
Am Abend vor meiner ersten Verabredung mit Julius Turnseck war ich zu aufgeregt, um zu Hause herumzusitzen. Also übte ich wieder das Autofahren. Ich hatte gelesen, dass es im Haus der Jugend ein Konzert mit dem Sänger Jacek Kaczmarski geben sollte und dass er eine wichtige Figur in der Solidarnócs-Bewegung in Polen sei. Es kam nicht alle Tage vor, dass ich jemanden aus dem Ostblock erleben konnte. In Polen war gerade erst im Dezember das Kriegsrecht verhängt worden. Ich fuhr mit Papas Polo in die Stadt.
Das Konzert fand
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