Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Vorgänge, die sich versammeln und entwickeln, wenn wir versuchen, unsere Fragen und Erkenntnisse zu bilden, vor dem fertigen Ergebnis, der fertigen Erzählung, von den Philosophen der Aufklärung gern als Form des Denkens postuliert, bis hin zum Abgerissenen, Fragmentierten, das die Romantiker wiederum liebten. » Ich lenke nun von dieser kleinen Ausschweifung wieder ein«, heißt es bei Lichtenberg, nachzulesen im Wörterbuch der Brüder Grimm, und auch andere Schriftsteller aus früheren Zeiten bitten ihre Leser immer wieder, man erlaube ihnen diese oder jene Abschweifung.
Der Bankier, dessen Temperament und Leidenschaft dem Rationalen zuneigte, das er auch gern das Vernünftige nannte, hörte bald auf, seine junge Freundin allzu oft zur Ordnung zu rufen, wenn sie auf den Gebieten des Geistes und des Lebens herumstreunerte, als wäre es der Wald ihrer Kindertage. Er wechselte die Strategie.
» Erzählen Sie mir!«, sagte er stattdessen. » Erzählen Sie!«
» Für Hegel ist die ökonomischste Form des Denkens der Umweg«, erklärte daraufhin erleichtert Helen, die seine strenge Kritik oft gebeutelt hatte.
» Eine interessante Vorstellung von Ökonomie«, antwortete der Bankier, und sie räsonierten nun über das Gespräch als Methode der Erkenntnis, das zurückführte auf jene Dialoge Sokrates’, die dieser beim Wandeln auf dem Marktplatze mit allen möglichen Personen führte. Julius Turnseck erholte sich in diesen Plaudereien vom Durchdeklinieren der Versuchsanordnungen, die er als Bankier täglich zu bedenken hatte, um Kredite in Hinblick auf die Investitionstauglichkeit ihrer Nehmer zu überprüfen, die bestmöglichen Gewinne in Geschäften langfristiger Natur vorauszurechnen, das Ausmaß des Risikos richtig einzuschätzen und Verluste jeglicher Art gering zu halten, und dies alles in einer Dimension von Zahlen, die für Helen schwindelerregend waren und die Auswirkungen auf die Wirklichkeiten hatten, die zu überschauen sie nicht imstande war.
Findet sich nicht immer im Porträt zugleich das Porträt des Porträtierenden und umgekehrt? Und wird nicht der Gegenstand verändert durch seine Betrachtung?
Fand der Bankier in der jungen Frau die Verspieltheit, die seinem planerischen Denken diametral gegenüberzustehen schien? Lag in seiner Lust zu gestalten nicht auch ein spielerischer Zug? Gehören Strategien nicht ebenfalls zum Grundzug vieler Spiele? Das Vorausdenken, Vermuten, Fantasieren? Hatte nicht auch er sich in seinem Jungenzimmer im Spiel mit seinen Zinnsoldaten Heeresbewegungen und Schlachten vorgestellt? Ja, schon, würde er zu bedenken geben, aber gerade dieses Beispiel zeige doch, dass es sich um eine ganz andere Form des Spielens handle als jenes Absichtslose, Schweifende und Streunende, das Helen so gern pflegte.
Doch das Erzählen, als hätten wir alle Zeit der Welt , soll vielleicht einfach nur die Zeit anhalten, jene, in der für die beiden alles noch offen war und hell.
9 Intrige
Helens Position änderte sich prompt, als Julius Turnseck sich in die Belange des philosophischen Instituts einmischte.
Noch bevor sie ihre Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft bei Herrn Dr. Sedlitzky aufnahm, erhielt sie einen Anruf, bei dem dieser sie ohne Umschweife fragte: » Welches Interesse könnte bitte die Deutsche Aufbau daran haben, dass Sie an unserem Symposion über die Postmoderne teilnehmen?«
Herrn Dr. Sedlitzkys Stimme so unmittelbar an ihrem Ohr brachte Helen ebenso durcheinander wie die Mitteilung, von deren Hintergrund sie nichts wusste. Sie schwieg.
» Wir haben einen Brief vom Vorstand der Deutschen Aufbau erhalten, von Herrn Dr. Julius Turnseck, der zu den Financiers der Tagung gehört und als Vortragender dort auftreten wird und darum bittet, Sie ebenfalls zu dieser Tagung einzuladen.«
» Ach«, sagte Helen. Was hatte sich Julius Turnseck denn da einfallen lassen? Ohne sie irgendwie vorzuwarnen? Und was hatte er mit den Philosophen und ihrer Tagung zu schaffen? Bevor sie auch nur Luft holen konnte, sagte Herr Dr. Sedlitzky überaus einschmeichelnd: » Hören Sie, Helen, ich darf Sie doch so nennen? Sie sollen ja ohnehin als meine Hilfskraft anfangen, nicht wahr? Da wäre es doch schön, wenn wir uns jetzt schon einmal kennenlernen könnten. Ich muss gestehen, ich bin doch sehr neugierig geworden.«
Helen schrieb sofort einen empörten Brief an Julius Turnseck, genau genommen wieder einmal nur einen kurzen Zettel, am liebsten hätte sie ein Telegramm geschickt; angerufen
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