Der Tag ist hell, ich schreibe dir
was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.«
Doderer hatte dummerweise seinen ganzen Ruf als Schriftsteller ruiniert, indem er mit den Nazis liebäugelte; er hatte einen dicken Roman geschrieben, in dem er über eine noch dickere Jüdin herzog, und später, als es sich nicht mehr gehörte, hatte er versucht, die dicke Jüdin in eine Rahmenhandlung zu zwängen wie in ein Korsett, um durch die novellistische Behauptung die antisemitische zu entkräften, was ihm keiner abnahm und ihm letzten Endes nur noch mehr schadete. Im Ganzen bedauerlich, denn sein Buch Die Wasserfälle von Slunj war ein Roman erster Sahne und ohne jedes rassistische Ressentiment, eine schöne Untergangsgeschichte, den Buddenbrooks durchaus an die Seite zu stellen, oder noch treffender Joseph Roths Radetzkymarsch, wegen des K. und K.-Klimas und des Sinns für lilafarbene seidene Unterwäsche von einsamen reichen Gattinnen.
Man rutscht wohl ins Leben mehr hinein, als dass man es wirklich planen könnte, und
man darf es nicht vergessen, wenn man die Lebensgeschichte eines Menschen erzählt.
Daran dachte Helen, die für die These der Bedeutung der Kindheit zahlreiche Belege fand, als sie zwanzig Jahre später Julius Turnsecks Geburtshaus sehen wollte und bei seinen Verwandten in Essen landete, im Garten eines Arbeitersiedlungshauses, mit einer riesigen Voliere, in der hundert schreiend rosa-orange Kanarienvögel zwitscherten und lärmten, und sie auf bunten Klappstühlen saßen und grillten und versuchten, in ihrem Gedächtnis etwas zu finden, was Helen auf der Suche nach ihrem verstorbenen Freund weiterhelfen könnte. Es roch über die Gärten hinweg nach glühender Grillkohle und Würstchen, nach etwas in der Sommerluft, das anders war als in Berlin, nach dem Gras, auf das sich der Abend langsam legte, und dem frischen Bier aus einem kleinen Fass. Helen hörte den Singsang des Ruhrpotts, die Scherze, die Fragen, und hätte am liebsten geweint und zugleich gelacht, so merkwürdig und herzzerreißend erschien ihr diese Situation, mit der ihr eigentlich wildfremden Familie von Julius’ Cousin zusammenzusitzen, die sie so herzlich aufgenommen hatte, als gehörte sie ganz selbstverständlich zu ihnen.
Sie hatten einen Karton mit alten Fotos und Briefen hervorgeholt und lange darüber gesprochen. Über die Kinderlandverschickung von Julius’ Schwester, die einen Brief nach Hause geschickt hatte, den sie Helen zeigten. Über den Großvater, der Julius’ Onkel gewesen war, der überall im Krieg, sogar im russischen Lager, Fotos gemacht hatte, und von den Fahrradtouren der Tante, also Julius’ Mutter, die auf dem Land bei den Bauern versucht hatte, Kartoffeln, Eier und Butter gegen Zigaretten und andere Tauschmittel aufzutreiben. Was Julius’ Vater gemacht hatte, wussten sie nicht, darüber war nicht viel gesprochen worden, nur, dass er nicht ins Feld hatte ziehen müssen, sondern in Essen geblieben war. Markus Turnseck, Julius’ Neffe, und seine Frau Gitti hatten Helen die Stelle in der Straße gezeigt, in der sich die Metzgerei von Julius’ Großeltern befunden hatte; sie waren mit ihr durch die Stadt gefahren und hatten erzählt, wie es dort früher ausgesehen hatte. Sie hatten ihr den Grünen Hügel mit der Krupp-Villa gezeigt und am Baldeneysee mit ihr zu Mittag gegessen, vor ihnen die blaue Fläche mit den Segelbooten im Wind. Stärker noch als die Einzelheiten der Anekdoten war es die Atmosphäre, die Helen eine Empfindung für Julius’ Herkunft vermittelte, auch wenn seine Familie vielleicht etwas besser gestellt gewesen war als die seines Onkels. Das Haus, das einen Riss hatte, weil sich wegen der ausgehöhlten Bergwerke der Boden absenkte, die stillgelegte Zeche, in der sie die Kohlen anfassen und die Umkleideräume der Männer besichtigen konnte, Gittis Großmutter, die im geblümten Kittel mit im Garten saß, und Gittis Vater, ein Handwerker und engagierter Gewerkschaftler, dessen Humor und Redewendungen Helen an Julius’ trockene Kommentare und seine Bodenständigkeit erinnerten. Das Bierchen, das sie alle zusammen zischten.
8
Abschweifung, die: verwandt auch mit Ausschweifung (Ausschweifungen in der Liebe: libido). Gedankensprung, vom Hauptgedanken scheinbar fortführend, mit Assoziationen, Abweichungen und Unterbrechungen, mit halb Gedachtem, halb Ausgesprochenem, hinzugenommen die Welt der Träume, Sinneswahrnehmungen und andere
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