Der Tag ist hell, ich schreibe dir
des Sarkasmus, die in ihr aufstieg, fast erdrückt. Julius Turnseck hörte zu, er lachte nicht wie sonst über ihre ironischen Bemerkungen, denn darunter klang eine wütende Verlorenheit durch.
» Helen«, sagte er so vorsichtig, wie er nur konnte, » bitte seien Sie mir doch nicht so böse! Ich bin doch genauso traurig wie Sie!«, worauf Helen hemmungslos zu heulen anfing.
» Ach herrje, ach herrje«, sagte Julius Turnseck auf der anderen Seite des großen Teiches, » was habe ich nur angerichtet«, und er entschuldigte sich nochmals und versuchte zu trösten und Helen zu ermuntern. Schließlich beruhigte sie sich und fragte, ob Herr Turnseck Herrn Dr. Sedlitzky denn schon Bescheid gesagt habe.
» Frau Osthaus wird ihn morgen früh anrufen, es ist jetzt schon zu spät.«
» Gut«, sagte Helen erleichtert.
Am Ende warnte Julius Turnseck sie, nicht allzu offen mit ihren Informationen umzugehen. Sie versprach es. Schließlich sagte er noch mit einem Unterton zwischen Sehnsucht und Resignation, er beneide diese Herren, mit denen sie in der Bar gesessen habe, um ihre Gesellschaft, und dass er sie alle fortgeschickt hätte, um mit ihr allein zu sein, hätte er denn bei ihr sein können. Dann wünschte er ihr eine gute Nacht, denn schließlich war es nach mitteleuropäischer Zeit schon lange nach ein Uhr. Und ach! wie gern er sie jetzt in den Arm nehmen würde, sagte Julius Turnseck ganz am Ende, und dann rauschte es in der Leitung wie in einem riesigen Schacht unter Wasser, und Helen legte müde auf.
Sie hatten über eine Stunde lang ein Ferngespräch geführt! Helen sah entsetzt auf die Uhr. Es musste ein Vermögen gekostet haben! Kaum hatte sie einen Moment lang so gesessen, erhielt sie einen weiteren Anruf, dieses Mal von Herrn Dr. Sedlitzky, der wissen wollte, wo sie denn die ganze Zeit gesteckt und mit wem sie denn so endlos telefoniert habe. Helen log, sie habe mit ihrem Freund Anders in München gesprochen, und sagte, dass sie sich lediglich, wie es ihre Aufgabe sei, ein wenig um die ausländischen Gäste gekümmert habe. Herr Dr. Sedlitzky machte sein Helen inzwischen vertrautes » aha«, mit dem er sie aufforderte, mehr zu erzählen, doch Helen beachtete umgehend die Regel, die Julius Turnseck ihr auf den Weg gegeben hatte, und hielt ihre Auskünfte so, dass sie Herrn Dr. Sedlitzky in eine gewisse nervöse Unruhe versetzten.
» Sie sind wohl eine richtige kleine Madame Pompadour?«, fragte er unvermittelt scharf, gefolgt von schrägem Gelächter.
Doch Helen, die kurz stutzte, sich aber sofort des Vergleichs würdig erweisen wollte, antwortete nur in liebenswürdigem Ton: » Lieber Herr Dr. Sedlitzky, es ist jetzt schon halb drei, gute Nacht!«
10 Der Bankier als Philosoph
Was genau faszinierte den Bankier an der Philosophie?
Das Gute, das laut Platon auch immer zugleich das Schöne ist? Das Nachdenken über Staatsformen? Theorien zur Entstehung der Demokratie? Die ihr zugrundeliegenden Menschenbilder, von der Antike bis heute? Oder vielleicht logische Probleme? Sprachphilosophische Probleme? Die Phänomenologie?
Man könnte sagen: all dies. Ihn interessierte das Grundsätzliche, denn das Grundsätzliche war in seiner Jugend so heftig erschüttert worden, dass es ihn seither verfolgte. Er hatte, kaum fünfzehnjährig, alle Gewissheiten verloren, die man ihm bis dahin eingebläut hatte, am Ende des Zweiten Weltkriegs nämlich, als er schockartig erkennen musste, dass Deutschland weder gut noch der Nabel der Welt war, was man ihm bis dahin, in einer Kindheit unter Hitler, immerzu vermittelt hatte.
So waren es in erster Linie politische Theorien, die Julius Turnseck beschäftigten und die seine Freundin Helen weniger an ihrem philosophischen Institut als vielmehr bei Professor Peter Weißvogel studierte, einem freundlichen Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt China. Langsam eroberte sie sich die Denker, die Julius Turnseck schon kannte, doch über die er sich gern mit ihr unterhielt: Von Aristoteles über die Macht- und Staatstheoretiker des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts wie Thomas Morus, Macchiavelli oder Hobbes, die zugleich Utopisten waren, über die Klassiker der jüngeren Epoche der Industrialisierung wie den protestantischen Max Weber (weniger allerdings Karl Marx, dem Helen weiterhin zuneigte) bis hin zu Vertretern des angloamerikanischen Pragmatismus wie John Rawls mit seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness und Verfahren oder Karl Popper, dessen Thesen über Die offene
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