Der Tag ist hell, ich schreibe dir
hätte sie um nichts in der Welt, denn nach Herrn Dr. Sedlitzkys geheucheltem Enthusiasmus nun auch noch Frau Osthaus’ sachliche Stimme zu hören, wäre zu viel gewesen. Doch bevor Julius Turnseck ihren Brief am nächsten Tag vermutlich auch nur öffnen konnte, hielt Herr Professor Professor Weberknecht Helen nach seiner Vorlesung über die Willensfreiheit am Ärmel ihres Sommerjäckchens fest. Helen wich unwillkürlich zurück, doch er ließ den Ärmel nicht los.
» Kann ich Sie bitte einen Augenblick sprechen?«, fragte er. Helen, die seit ihrer letzten Unterredung immer einen gewissen Abstand zu ihm hielt, fühlte, wie ihr Gesicht rot wurde, und nickte. Dass sie auch immer gleich rot werden musste, wie ein ertapptes Kind! Welchen Ärger würde es dieses Mal geben? Sie trabte hinter dem Professor her, durch die Gänge zu seinem Büro. Kaum war die Tür verschlossen, fragte er: » Sind Sie mit Herrn Dr. Turnseck verwandt?«
» Nein«, sagte Helen erstaunt und schüttelte den Kopf.
» Sehr interessant. Nun ja. Er wünscht sich, dass Sie im Herbst an unserer philosophischen Tagung teilnehmen. Nun, Sie wären ohnehin mitgefahren, als Mitarbeiterin unseres Instituts. Wir hatten schon eine entsprechende Aufgabe für Sie ins Auge gefasst.«
» Ach, ja?«, fragte Helen, ein weiteres Mal überrascht. Sie hatte bis zum gestrigen Tage nicht einmal gewusst, dass es diese Tagung geben würde; auch Sabrina hatte darüber kein Wort verloren.
» Gut«, sagte Herr Professor Professor Weberknecht und nickte mit seinem Vogelkopf, » dann können Sie jetzt gehen. Freut mich übrigens, Sie jetzt regelmäßig in meiner Vorlesung zu sehen!«
Am Nachmittag schließlich rief Professor Raabe an und zog Helen in ein Gespräch, eine Art freundschaftlichen Plausch, dem sie mit wachsendem Unbehagen folgte. Sie fragte sich, wie viel Julius Turnseck es sich hatte kosten lassen, sie dabeihaben zu wollen, dass drei Mitglieder des Instituts um sie herumkreisten wie Sterne um eine Sonne, obwohl sie doch von Metaphysik so wenig verstand. Professor Raabe bekam einen vertraulichen Ausdruck in der Stimme und, als führten sie beide seit Langem diese Art Unterhaltung, erkundigte sich nach ihrer literarischen Lektüre.
» Was ich gerade lese?«
» Ja«, sagte Professor Raabe fröhlich, » Sie hatten doch einmal erwähnt, dass sie abends immer bis in die Puppen Romane lesen.«
Seltsam verwirrt und mit dem Gefühl, irgendetwas nicht mitbekommen zu haben, nannte sie stockend einige Buchtitel, ohne zu viel preiszugeben, und Professor Raabe berichtete, dass er gerade Joseph und seine Brüder von Thomas Mann lese.
» Wieso studieren Sie eigentlich nicht Literatur?«, fragte Professor Raabe am Ende.
Endlich meldete sich am nächsten Tag Julius Turnseck am Telefon. Helen, die schon darauf gewartet hatte, hatte den Apparat mit in ihr Zimmer genommen. Sie hatte die Tür zu ihrem winzigen Balkon weit geöffnet, auf dem sie manchmal mit Anders und Katrin an einen ebenso winzigen Tisch gequetscht zu Abend aß. Die Kastanie stand in voller Blüte, Vögel sangen. Helen lag auf dem Boden, den Kopf auf Hand und Ellenbogen gestützt, und versuchte verzweifelt, Briefe von Diderot an seine Freundin Sophie Volland zu lesen; sie konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Sie meldete sich sofort nach dem ersten Klingeln, und noch bevor sie ihn fragen konnte, sagte Julius Turnseck: » Ich wollte Sie doch so gern überraschen, mir war nicht klar, dass die Herren es in dieser Weise wenden würden!«
» Aber Herr Turnseck«, sagte Helen, » Sie müssten doch wissen, wie solche Dinge laufen! Die Herren hatten ein großes Vergnügen daran, mir Ihre Intervention unter die Nase zu reiben. Jetzt hängen sie irgendwo zwischen Misstrauen und Bewunderung, und mit dem einen kann ich so wenig anfangen wie mit dem anderen. Außerdem sind sie widerlich neugierig und schleimig zugleich!« (Wie naiv war er denn eigentlich?)
» Das ist ja wirklich erstaunlich. Eigentlich hatte ich nur mit Professor Weberknecht über die Tagung gesprochen und ihn gebeten, Sie ebenfalls einzuladen. Er hat völlig ungerührt getan.«
Helen schilderte kurz die Gespräche und wie Professor Professor Weberknecht sie am Ärmel gezerrt hatte. » Wie sind Sie überhaupt auf Professor Weberknecht gekommen?«
» Es hat eine Anfrage gegeben, ob die Deutsche Aufbau nicht Interesse hätte, eine Tagung über die postmoderne Gesellschaft zu fördern. Und Sie hatten mir doch eine Menge erzählt. So kam gewissermaßen
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