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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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von Doderer, wurde in immer längeren, um nicht zu sagen gigantischen Sätzen zitiert.
    Helen verdrückte beim Zuhören ein paar Stücke der faden Pizza. Sie sah die blauen Augen des Professors, der von den quälenden Umständen seiner Herkunft sprach, von seiner Liebe zu den Bergen (und den jungen Männern, dachte Helen, was ist mit den jungen Männern?!), von seinen ehrgeizigen Plänen, neben der Habilitation, die, wie er ihr jetzt zu ihrer großen Verblüffung offenbarte, noch gar nicht abgeschlossen war, was niemand wissen dürfe, und die er selbstverständlich über Kant schreibe, den König der Philosophen, und Helen sah, wie rote Flecken auf dem Gesicht ihres Gegenübers auftauchten und wucherten und ihre Farbe vertieften, und sie bekam eine Art hypnotischen Blick und sah, wie der Turm zu Babel sich in eine Rakete verwandelte und mit einem riesigen Knall startete und ins All hinauf schoss und immer weiter und höher raste und auf Nimmerwiedersehen im Nichts verschwand.
    Am Ende, schon im Gehen, legte Professor Raabe die Hand auf Helens Schulter, sah ihr mit wässrigem Blick in die Augen und sagte, sie sei ja ein kluges Kind und wisse sicher, welche ihrer Erkenntnisse sie weiterzugeben habe und welche nicht, und gewiss sei sie imstande zu unterscheiden, welche ihrer Einsichten, leichtfertig oder absichtlich preisgegeben, anderen Menschen großen Schaden zufügen könnten. Helen sah ihn fragend an.
    » Ich denke da unter anderem auch an unseren schönen Ausflug«, fügte er fast flüsternd hinzu und drückte ihren Arm.
    Nein, dachte Helen, das war es also, worauf die ganze Einladung abgezielt haben sollte? Sie verbarg ihre traurige Verwunderung, nickte freundlich und schüttelte Professor Raabe die stark verschwitzte Hand.
    Sie grübelte lange über dieses Gespräch. Sie erkannte, welchen Preis einer unter Umständen zu zahlen hatte, wenn die Liebe zu einer Sache dem Fortkommen unterstellt, wenn nicht geopfert wurde. Wie viel Lüge sah sie und Verrenkung! Und was bedeutete dies für ihr eigenes Leben? Die Frage bohrte sich wie ein grellblauer Pfeil in ihr Herz, den sie nicht herauszuziehen vermochte, der einen Schmerz verursachte, der in ihr puckerte und pochte.
    Sie sollte, was ihre Halluzination bei Tisch betraf, leider recht bekommen: Der Professor, der den Faden zwischen Wollen, Können und Werden so weit und straff gespannt hatte, dass er vieler Gläser Weißweins bedurfte, um ihn zu halten, starb nur wenige Jahre später, viel zu jung und viel zu unvollendet und von allen betrauert und bedauert, auch wenn Professor Professor Weberknecht es nicht lassen konnte anzumerken, was Sabrina der längst fortgezogenen Helen fernmündlich übermittelte, dass gewisse Neigungen eben doch besser zu sublimieren seien, zumal vor Gottes Angesicht, da dem von der Natur nicht Vorgesehenen bei aller Güte eines Menschen die Zerstörung letztlich immer innewohne.
    Und Helen, als sie vom Tod des Professor Raabe erfuhr, in einer anderen Stadt, in einem anderen Leben, dachte an die sich lagernden jungen Männer auf der Alm und das Lachen des Professors, wenn er den schönen blonden Hajo, mit dem hoch ausrasierten Nacken und der weichen Tolle über der Stirn, anstrahlte und die Hand auf seinen wohlgeformten Oberarm legte, und es kam ihr vor wie die Erinnerung an einen alten Film, aus den Dreißigerjahren, oder den Vierzigern. Vielleicht lag es an der Atmosphäre, die sie nachwirken spürte, an den Hirschgeweihen und der Hitze und dem blühenden Gras.
    Sie erinnerte sich aber auch an einen liebenswürdigen Auftritt des Verstorbenen, bei dem Professor Raabe als Kant verkleidet, mit weißer Perücke und im geliehenen Frack des späten achtzehnten Jahrhunderts, mit weißen Strümpfen und Kniehose eine Vorlesung hielt und quasi aus dem Himmel herab über den kategorischen Imperativ und Fragen der praktischen Moral dozierte, und sie dachte, wie schade es doch sei, wenn ein Mensch sein Leben vermasselte und an seiner Begabung vorbeischrammte, vor lauter Ehrgeiz oder Angst oder Unwissenheit, wer er nun selber sei. Weiß gepudert war sein Gesicht gewesen, und weiß war das Taschentuch mit Spitzenrand, das er immer wieder zückte, um sich über die schwitzende Stirn zu fahren. Er zitierte einige Male Heimito von Doderer, der im Übrigen großartige erste Sätze geschrieben hatte, wie beispielsweise: » Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer«, der dann auch noch gefolgt wurde von » Später erst zeigt sich,

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