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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Kaum hatte Julius Turnseck einigen weiteren Unternehmen geholfen, die in den Knien etwas eingeknickt waren, holte ihn Carl Joachim, der damalige Vorstandssprecher der Deutschen Aufbau , zur Bank, und zwar direkt in den Vorstand. Der erfahrene Bankier, der sich beim Aufbau der jungen Bundesrepublik stark engagiert hatte, erläuterte Julius Turnseck seine Philosophie: » Wir sind keine Bank direktoren«, sagte Carl Joachim, » wir sind gleichberechtigte Mitglieder eines Vorstands. Direktoren sind etwas für Kleinstädte.« Carl Joachims Vater war Dirigent gewesen, und auch ihm, der ein großer Liebhaber Johann Sebastian Bachs war, haftete – Gleichberechtigung hin oder her – viel von einem Maestro an, der sein Orchester auf einen dissonanzenfreien Klang einstimmte.
    Julius Turnseck musste sich neue Gebiete erobern. Die dünnen Abstraktionen des Geldes schreckten ihn nicht, im Gegenteil, er nahm sie sportlich und zitierte, einmal darauf angesprochen, einen der beiden Gründerväter der Deutschen Aufbau, einen jungen Juristen, der 1870 in einem Berliner Hinterhaus in der Nähe des Gendarmenmarktes mit seinem Kollegen gescherzt haben soll: » Ich verstehe zwar noch nicht viel vom indischen Geldgeschäft, aber ich gebe mich immer sehr gebildet: Jeden Abend lese ich zu Hause das Konversationslexikon und das Brevier Die Kunst, in vierundzwanzig Stunden ein Bankier zu werden.«
    Der Elan dieses frechen Neulings weckte Bewunderung ebenso wie Misstrauen und Neid; doch bald gehörte der immer noch recht junge Mann anerkanntermaßen zu den innovativsten Köpfen der Bank und der deutschen Wirtschaft überhaupt. Es gab offenbar nichts, was Julius Turnseck sich nicht in kürzester Zeit hätte aneignen können und wollen; und wieder war es sein Vater, der den eigenen Ehrgeiz auf den Sohn übertragen und ihm geraten hatte: » Willst du schlauer als die andern sein, musst du früher auf den Beinen sein!«
    Julius Turnseck, mit einer ungewöhnlichen Konzentrationsfähigkeit begabt, scheute weder den Widerstand althergebrachter Strukturen noch das dazugehörige Führungspersonal, dem es oft genug nur darum ging, die eigenen Pfründe zu sichern. » Zu Ende denken ist besser denken«, sagte er gern und legte seine Vorschläge mit einer so entwaffnenden Mischung aus verblüffenden Einfällen, brillanter Rhetorik und Unduldsamkeit vor, dass er sich am Ende fast immer durchsetzte.
    Er überholte dabei auch einige ältere Kollegen, die zwar von der Pieke auf angefangen hatten, aber eben morgens lieber eine Stunde länger schliefen. Helen sollte einmal das Vergnügen haben, einen dieser Herren kennenzulernen, kurz nachdem in der Öffentlichkeit ihre Freundschaft mit Julius Turnseck bekannt geworden war. Der Mann, der sich zunächst anerkennend über Julius geäußert hatte, schlug ein Bein übers andere, lehnte sich im Sessel zurück und sagte, mit einem Whiskyglas in der Hand und einem etwas überheblichen Ausdruck in den halb geschlossenen Augen, zu dem Helen kein anderes Wort als Dünkel einfiel: » Nun ja, er war ja im Grunde keiner von uns. Es fehlte ihm einfach der Stallgeruch. Es wurde daher manches von uns anders eingeschätzt als von ihm, vor allem, was gewisse Neuerungen betraf. Er liebte auch unsere Geselligkeiten nicht. Statt mit uns zusammenzusitzen, nach einem Essen etwa oder einer anderen Gelegenheit, ging er lieber hinaus, um mit seinen Leibwächtern oder seinem Fahrer ein Bier zu trinken.«
    Kurz vor seiner Intervention bei den Philosophen hatte Julius Turnseck einen Plan entwickelt, wie die maroden Werften des Landes gerettet werden könnten. Er hatte Politiker und Industrielle für Maßnahmen zu gewinnen gesucht, die seiner Meinung nach verhindern würden, zigtausend Arbeitsplätze am Wasser zu versenken.
    » Die dummen Kerle haben es nicht verstanden«, sagte er zu Helen. » Sie können immer nur ein halbes Jahr im Voraus denken, es ist zum Jammern. Als ob ihnen die Arbeitsplätze alle egal wären!«
    Ihm lagen sie am Herzen, denn niemals würde er vergessen, wie er mit den Kumpels unter Tage malocht hatte. » Ich muss doch an die denken, die meine Entscheidungen am Ende zu tragen haben«, sagte er, und Helen glaubte ihm.
    Eine solche Haltung, mit der er sich noch dazu offen in die Politik einbrachte, war für einen Bankier damals keineswegs üblich, und sie ist es noch immer nicht.
    11 Briefe zur Liebe
    Als Helen sechzehn oder siebzehn Jahre nach dem Tod ihres Freundes ihre Briefe zum zweiten Mal durchsah, sie einzeln

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