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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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aus den verschiedenfarbigen und sorgsam aufgeschlitzten Umschlägen zog, sie auseinanderfaltete und langsam und mit wechselnden Empfindungen las, nahm sie, nach der Datierung mit den gelben Post-its, eine weitere Einteilung vor. Sie saß im Garten, es war Sommer, sie sortierte ihre Briefe auf kleine Stapel und überlegte. Einen der Stapel nannte sie » Gruppe der Briefe zur Liebe« und fügte ihm zwei Fotografien hinzu. Die eine war aus einem der Umschläge gerutscht, sie zeigte sie selbst im Halbprofil, mit Anfang zwanzig, mit einem Bonbon in der Backe, munteren Augen und wilden Locken. Das andere Foto hatte sie aus dem farbigen Titelbild einer Zeitschrift aus dem Jahr 1985 ausgeschnitten und dazugelegt. Julius’ Gesicht war zu sehen, mit einer hochgezogenen Augenbraue und skeptisch verzogenem Mund, dabei sehr gut aussehend, darunter stand in gelben Buchstaben: Der Herr des Geldes . Sie dachte an ihre Professoren, die diese Zeitschrift ebenfalls gekannt hatten und deren Verhalten sie damals eigentlich zum ersten Mal damit konfrontiert hatte, wie Fremde sie in ihrer Beziehung zu Julius sahen.
    Wie Doktor Viktor Sedlitzky etwa, dem Helen nun als wissenschaftliche Hilfskraft zu dienen hatte, ein geistreicher Mann von dreiunddreißig Jahren, der in seine gewöhnliche Rede wunderbare Zitate einzuflechten wusste und, obwohl als Sohn eines höheren Offiziers mit einem gehörigen Sinn für Disziplin und Haltung ausgestattet, eine jungenhaften Erotik ausstrahlte. Helen lauschte, wenn er mit sanfter Stimme und gewählter, fast vornehmer Diktion über Schlegels Signatur des Zeitalters sprach oder Thesen über die Romantik formulierte. Der Dozent versäumte nicht, seine schönen Hände immer wieder beim Reden ins Spiel zu bringen und seine braunen Augen in die seiner Zuhörerinnen zu versenken, und Julius Turnseck hörte nun immer häufiger seinen Namen in einem Brief erwähnt oder am Telefon und neckte Helen hin und wieder mit einer gespielten kleinen Eifersucht.
    Dr. Sedlitzky verband sein großes Wissen mit einem ebenso großen Ehrgeiz, dem alles andere unterzuordnen er bereit war. Er witterte, dass Helen einen gewissen, wenn auch schwer einzuschätzenden Einfluss auf Julius Turnseck hatte. Es ärgerte ihn maßlos, doch zugleich überlegte er, wie er diesen Umstand für sich nutzen könnte, denn für ihn war Herr Dr. Turnseck nicht nur ein Förderer der philosophischen Belange, sondern ganz konkret ein potenzieller Arbeitgeber an der neu gegründeten Universität im Ruhrgebiet. Er beschloss, Julius Turnseck über Helen Informationen zuzuspielen, mit denen er in seinen Augen interessanter zu werden glaubte.
    Helen hätte diese Dinge am liebsten ignoriert, vielleicht aus Ehrgefühl oder Stolz oder irgendeiner unbewussten Haltung heraus, die mit ihrer Abwehr gegen das zu tun hatte, was sie die Moral der Goldknöpfe nannte. Andererseits musste sie sich eingestehen, dass die Sache ihren Spieltrieb reizte, vielleicht sogar aus reinem Trotz, denn Dr. Sedlitzky, der offenbar das Gefühl hasste, ihrem Eigensinn ausgesetzt zu sein, ließ kaum eine Gelegenheit aus, ihr seine Unabhängigkeit beziehungsweise ihre Abhängigkeit von ihm als ihrem Brotherrn zu demonstrieren, im Wechsel mit schmeichlerischen Komplimenten und Aushorchungsgesprächen, die sich als Flirt zu tarnen suchten. Als er merkte, dass Helen diese durchschaute, ging er dazu über, so zu tun, als nehme er sie als intellektuelles Gegenüber ernst, was er zeitweise vielleicht sogar tat, und verwickelte sie in philosophische und semiphilosophische Erörterungen im Biergarten.
    Indes lief Helens Einfluss auf Julius Turnseck über eine Schiene, die Herr Dr. Sedlitzky in seiner Konzentration auf die Machtfrage nur ganz am Rande seines Bewusstseins ahnte, jedoch wegen seiner eigenen dünkelhaften Gespaltenheit gegenüber der jungen Frau nicht glauben mochte. Helens Wirkung, die anders als Madame Pompadour ihre Briefe weniger als Mittel politischer Strippenzieherei, sondern als Ort der hemmungslosen Selbstreflexion nutzte, entfaltete im Herzen des Empfängers eine umso heftigere Zuneigung, je unschuldiger und gewissermaßen unstrategischer sich die Verfasserin zeigte. Tiefere Kräfte wiesen ihr offenbar die geheimnisvollen Pfade der postalischen Verführung.
    Lieber Herr,
    wie schön, dass Sie mir bei unserem letzten Treffen von Ihrer Studentenzeit erzählt haben; ich hatte Sie schon fast für einen Streber gehalten. Jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie Sie mit Ihren Freunden

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