Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Gesellschaft und ihre Feinde Julius Turnseck ebenso schätzte wie das erwähnte » Trial and Error« als Methode der Wahrheitsfindung. Hin und wieder beschäftigten ihn auch die Gedanken von Jaspers und Heidegger über die Existenz, doch im Zentrum seines Nachdenkens standen politische Philosophien, die sich mit der Moralphilosophie insofern berührten, als in beiden zentrale Begriffe wie die der Tugend, der Vernunft und der Gerechtigkeit eine Rolle spielten.
Ihn bewegten erkenntnistheoretische Fragen, weil sie, wie er sagte, seinen Sinn für Projektionen in die Zukunft schärften, wie beim Vorausdenken eines Schachspielers, der in Windeseile im Kopf alle möglichen Züge und Gegenzüge durchgeht. Er liebte die Logik, die ihn zu ungewöhnlichen Lösungen brachte und der sich zum Teil sein Aufstieg verdankte, wenn man von seinem frappierenden Charme einmal absah, mit dem er seine Ideen vorbrachte.
Julius Turnseck war der felsenfesten Überzeugung, dass man mit der Vernunft alle Probleme lösen könne und dass sie den Menschen zu dienen habe, und er nannte diese Überzeugung seine philosophische Grundhaltung. Erst später im Leben sollten seine Überzeugungen brüchiger werden.
» Wann bleibt Ihnen denn Zeit, so viel zu lesen?«, fragte ihn Helen manchmal, und er gab zur Antwort: » Es gehört doch zu meinen Aufgaben, liebe Helen.«
Denn in der über hundertjährigen Geschichte der Deutschen Aufbau, die die Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts unbeschadet überstanden hatte, war es selbstverständlich, dass ihre Bankiers sich bildeten. Bankiers, die nicht nur als Berater für die Finanzierung großer Vorhaben im Einsatz waren, sondern mit Weitblick ihre Durchführung begleiteten. Dank ihrer intimen Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten der Industrie und der verwickelten Verflechtungen derselben mit der Politik wurden die Spitzenkräfte der Deutschen Aufbau nach einer erfolgreichen Zusammenarbeit oft dazu eingeladen, als Aufsichtsräte für die ihnen nunmehr vertrauten Unternehmen Marktstrategien zu analysieren, zu korrigieren oder gänzlich neue zu entwickeln. Darüber hinaus kaufte sich die Deutsche Aufbau in zahlreiche Firmen mit einer Beteiligung ein, die ihre Mitwirkung gewissermaßen erforderlich machte.
Durch die erste große Energiekrise in den späten Siebzigern des letzten Jahrhunderts hatte die florierende deutsche Wirtschaft zum ersten Mal einen gewissen Einbruch erlitten, und viele Unternehmen bedurften einer Neuorientierung. Gerade klassische Industriezweige wie Kohle und Stahl sahen sich vor völlig neue Herausforderungen gestellt: drängende Umweltfragen und die Veränderung von Arbeitsabläufen durch den zunehmenden Einsatz von Computern. Julius Turnseck galt auf diesem Gebiet als herausragender Experte.
Schon als Junge hatte er seinen Vater in die Bergwerke im Ruhrgebiet begleitet. Dieser stattliche, wie Helens Mutter sagen würde, und elegant gekleidete Mann, von dem Helen eine Fotografie kannte, auf der er neben seinem Sohn auf einem Feld stand, im Hintergrund Fluss und Förderturm, den Wintermantel in doppelter Reihe zugeknöpft, war für die Logistik zuständig gewesen. Er organisierte die Wege der Kohlen aus der Tiefe der Stollen ans Licht des Tages durch die Zechenmaschinerie hindurch bis zum Abtransport in die verschiedenen Bedarfsbereiche und verarbeitenden Industrien. Er hatte seinen Sohn mit diesem » komplexen System« von Kindesbeinen an vertraut gemacht; und von diesen frühen Eindrücken aus entwickelte Julius sein leidenschaftliches Interesse an der deutschen Schwerindustrie.
Es gehörte für ihn zu den glücklichsten Erinnerungen, wenn er als Junge neugierig und aufgeregt mit dem Vater zusammen in die Welt der lärmenden Zechen und der riesigen Feueröfen eintauchte, vor denen er sich selbst wie ein Winzling vorkam. Die Bergwerke waren nicht umsonst für manche Dichter, insbesondere der Romantik, wie Novalis, E. T. A. Hoffmann und Brentano, Sinnbild allen menschlichen Treibens. Vermutlich hatte Julius dank der sehr frühen und genauen Anschauung ihrer Mechanismen die Fähigkeit entwickelt, von einem solchen » System« auf andere zu schließen. Die Arbeit unter Tage, mit der er sein Studium finanzierte, vertiefte seine Kenntnisse dieser Welt.
Schon bald nach seinem Einstieg ins Berufsleben als Betriebswirt – nicht als Bankier – machte er sich im zentralen Gasversorgungswerk des Ruhrgebiets einen Namen als exzellenter Neuordner eines schwächelnden Unternehmens.
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