Der Tag ist hell, ich schreibe dir
manchmal am Rhein ein Picknick gemacht haben, mit dem Grammophon auf der Wiese, oder zum Tanzen ausgegangen sind. Wie schade, dass wir uns da nicht schon kannten!
Ich lese gerade Lucinde von Schlegel, ein seltsames Buch; der Gedanke, dass die erotische Liebe es ist, die die Menschen aneinanderbindet, gefällt mir einerseits. Doch andererseits ist doch die Liebe der Sinne so vergänglich. In Paris war ich in einen jungen Mann verliebt, doch als es mit ihm zu Missverständnissen kam, verliebte ich mich in einen anderen. Dazwischen versuchte ich, die Verliebtheit auszutreiben, mit flüchtigen Begegnungen, die noch nicht einmal den Namen Liebschaft verdienen würden. Gab es das zu Ihrer Zeit?
Liebste Grüße von Ihrer Helen
Mein lieber Herr,
wenn jetzt aber die wirkliche Verbindung zwischen zwei Menschen die geistige ist, sei sie nun durch eine körperliche Berührung ausgelöst oder nicht, dann spielt die körperliche Treue doch eigentlich gar keine Rolle, oder? Wenn man nun als guter Philosoph die Welt ergründen möchte, darf man sich doch eigentlich keine Grenzen auferlegen. In meiner alten WG wohnte ein Schauspieler mit uns, der in Peter Weiss’ Stück Marat/ Sade mitspielte. Ich hörte ihn den Text einüben, und manchmal bat er mich ihn abzufragen. » Als ich in der Zitadelle lag / Dreizehn Jahre lang / da habe ich gelernt / dass dies eine Welt von Leibern ist / Und jeder Leib voll von einer furchtbaren Kraft / und jeder allein und gepeinigt / von seiner Unruhe / in diesem Alleinsein.«
Bald kannte ich das ganze Stück, und natürlich habe ich es mir angesehen, als er es spielte. Was ich Ihnen nie erzählt habe, ist, dass meine andere Mitbewohnerin, die mit ihm zusammen war, ohne jeden Grund so eifersüchtig auf mich geworden ist, dass sie mich hinausgeekelt hat.
Bleibt man immer allein, auch in der Liebe? Zieht die Liebe zu dem einen Grenzen für die Liebe zu einem anderen? Was ist richtig? Was notwendig? Vielleicht ist die Freundschaft viel besser als die Liebe für mich.
Es grüßt Sie Ihre liebe Freundin Helen.
Julius Turnseck beobachtete mit wachsender Unruhe, wie sich in Helens Briefen immer häufiger Gedanken, Zitate und lange Abhandlungen über die Liebe fanden. Und anders als sein Wissen um Helens Beziehung zu ihrem gleichaltrigen Freund etwa, die ihn nicht sonderlich beunruhigte, und vielleicht, weil sich so vieles zwischen ihnen entwickelt hatte, lösten sie im Bankier neue Gefühle aus. Die zweiundzwanzigjährige Briefeschreiberin, die er nun doch schon eine Weile kannte, schlug einen nachdenklichen, ja geradezu verträumten Ton an, der ihn in seinen Bann zog und die Frage auslöste, auf wen sich diese Liebe denn beziehen könnte. Der Name Dr. Sedlitzky schob sich ihm häufiger vor das innere Auge. Madame Pompadour hätte darin sicherlich mehr als eitle Konkurrenz gesehen, nämlich das Zeichen einer wahren Entflammung, die den Betroffenen in eine tiefe Unsicherheit über seine Möglichkeiten, geliebt zu werden, stürzt und für diese sogar oft unsinnigerweise ein wenig blind macht.
Nehmen wir als Beispiel diesen Brief, mit blauem Kugelschreiber auf zwei Blätter hauchdünnes hellblaues Luftpostpapier geschrieben (einseitig), auf einen Junitag datiert, ein Brief, der ohne Anrede beginnt.
Der Genuss
So bringst du mich um meine Liebe,
Unseliger Genuss? Betrübter Tag für mich!
Sie zu verlieren, wünscht ich dich?
Nimm sie, den Wunsch so mancher Lieder,
Nimm sie zurück, die kurze Lust!
Nimm sie, und gib der öden Brust,
der ewig öden Brust, die bessre Liebe wieder!
Gottfried Lessing, 1753
Lieber Herr,
zweihundertzweiunddreißig Jahre ist das her. Das Körperliche verändert etwas zwischen Menschen. Hört denn die körperliche Leidenschaft dieser Art nicht immer wieder auf? Was tut man dann? Der ganze Mensch ist einem doch ans Herz gewachsen. Treibt die Jugend uns weiter, oder die Neugier? Mit ihren auf Neues gierigen Augen also?, den inneren ( » Geist & Seele«) wie den äußeren (sinnlichen), sich auf die Welt zu stürzen? Die Bäume, die Himmel, die Erden, die Männer, die Frauen, die Kinder?
Es ist nicht so einfach, wie Professor Professor Weberknecht meint: dass man selbst die Situation verschuldet, in der man einen von zwei Menschen verletzen muss. Als ob man die » Einbrüche der Liebe« voraussehen könnte. Soll ich mich auf keinen einlassen, weil ich weiß, dass ich bei keinem bleibe? Von Eros höre ich nur immerzu, es sei ein flüchtig Ding, es macht dich heiß und kalt,
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