Der Tag ist hell, ich schreibe dir
nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war es wieder errichtet worden. Die Portale waren so riesig wie die Eingangshalle imponierend.
Regelmäßig besuchte Helen die Monster von Hieronymus Bosch, die aus aufgeplatzten Eierschalen krochen, die Winterlandschaften von Pieter Brueghel dem Älteren, auf denen Bauern und Mägde unter mattbraunem Himmel auf kleinen Tümpeln und Weihern Schlittschuh liefen, die berühmte schmale Eva von Cranach, mit dem hauchdünnen Schleier vor ihrem Venusdreieck, und viele andere Gemälde der flämischen und altdeutschen Meister. An den stürzenden, riesenhaften Figuren der Spanier rannte Helen eher erschrocken vorbei, um lange Zeit die Dame mit dem Pelzchen von Tizian anzubeten; ihre Zartheit, die feinen Härchen des Pelzes, den sonderbaren Ausdruck ihres schönen Gesichts, die eigentümlich zweideutige Spalte am Ärmel, auf die sie mit ihrem hübschen Fingerchen zeigte.
Die Marquise de Pompadour, kurz auch Madame Pompadour, gemalt von François Boucher, hing im zweiten Stockwerk. Helen nahm, wenn ihr der Sinn nach der Marquise stand, sehr rasch die hohen Stufen der endlos langen Treppe aus Marmor, an deren Seite riesige Fenster den Ausblick ins Freie boten, und bog in die Abteilung mit der französischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts ein, in deren erstem Kabinett es immer etwas muffig roch. Sie grüßte im Vorbeihuschen einige Gemälde wie alte Bekannte und steuerte mit energischem Schritt auf das Bänkchen vor Madame Pompadour zu und ließ sich darauf fallen. Links von Madame, wesentlich kleiner, hing Fragonards Mädchen mit dem Hündchen, das bäuchlings auf einem Diwan lag, das Hemdchen weit über den Popo hochgeschoben, während der kleine Spitz zu ihren Füßchen herumturnte. Helen liebte auch dieses Bild.
Madame Pompadour, die mit bürgerlichem Namen Jeanne-Antoinette Poisson geheißen hatte (Johanna Fisch zu deutsch), was zu vielen Spottversen geführt hatte, indem Geruch und Milieu des Tieres von zeitgenössischen Neidern mit ihr gleichgeschlossen wurden, thronte halb liegend, halb sitzend auf einer Chaiselongue. Sie hatte den linken Arm auf Kissen gestützt, hielt in der rechten Hand ein aufgeschlagenes Buch und blickte nachdenklich in den Raum. Ihr tiefgrünes, glänzendes Kleid aus Seide bauschte in seiner Fülle, und ein Besatz aus altrosafarbenen Schleifen wuchs ihr vom Bauchnabel bis zum Dekolleté, um dieses zu betonen. Ihre Taille sei rund, aber vollkommen gewesen, hatte Helen bei den Brüdern Goncourt gelesen, die sich zwischen Bewunderung und männlicher Verachtung für eine mächtige Frau offenbar nicht hatten entscheiden können. Ihre Arme, jedenfalls das, was man zu sehen bekam, waren ebenfalls ein bisschen rund, was Helen mit ihren eigenen molligen Ärmchen versöhnte, und an ihren Handgelenken trug sie breite Perlenarmbänder. Auch an den Ellbogen zierten feine Spitzen die helle Haut, die von ihren Freunden als ihr besonderer Trumpf beschrieben wurde, diese helle, zarte, schöne durchscheinende Haut. Madame Pompadour saß auf dem überlebensgroßen Gemälde von François Boucher in ihrem Boudoir, ihr kluger Hinterkopf wurde betont durch die Doppelung im Spiegel hinter ihr, und wenn Helen sich an eine bestimmte Stelle brachte, sah es aus, als grinste eine Katze sie aus diesem Hinterkopf an. Ebenfalls hinter der Chaiselongue war ein Bücherschrank zu sehen, denn die Mätresse von Louis XV ., einem intelligenten Melancholiker, der an der Langeweile seiner laster- und luxussüchtigen Zeit litt, liebte Bücher über alles, und sie suchte bei jeder Gelegenheit das Gespräch mit gebildeten Männern, Philosophen, Komponisten, Literaten. Voltaire soll ihre ersten Briefe korrigiert haben, Diderot und Rousseau besuchten sie, und so hatte Boucher einige ihrer Werke in diesem Bild untergebracht. Dort, wo die Rüschen ihres Kleides endeten, unterhalb der Taille nämlich, sehr tief unten, saß das Buch, lässig gehalten, wie ein Feigenblatt – es sollte wohl bedeuten, dass Madame mit dem Geschlecht denken konnte, eine Disziplin, die von wenigen beherrscht wird. Eine sinnliche Sensibilität, bei anderen Menschen auch als » guter Riecher« bezeichnet, jene höhere Intuition für Menschen also, die befähigt, ihre Belange, Leidenschaften und Konditionen auf Anhieb zu erkennen, eine Gabe, die es Madame in sehr jungen Jahren – Helens Alter etwa – nicht nur ermöglicht hatte, das Herz des Königs zu gewinnen, sondern sich auch gegen so üble Schurken wie Richelieu
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