Der Tag mit Tiger - Roman
Nina klang wie ein verstimmter Dudelsack, dachte sie entsetzt und blickte sich interessiert um, ob den anderen diese unmelodische Einlage auch aufgefallen war. Aber entweder waren sie das disharmonische Gejodel bereits gewöhnt oder betrachteten es als eine besonders interessante Zutat zu ihrer Katzenmusik.
Dann verklang das fröhliche Lied. Stille trat wieder ein.
Aber der Bann war gebrochen. Die eine oder andere Katze setzte sich bequemer hin, hier wurde ein Schwanz zurechtgewiesen, da eine Pfote geputzt, dort musste ein Nachbar zur Seite geschubst werden, leiser Klatsch wurde ausgetauscht, und Jakob schleppte sich mit schmerzenden Knochen in die Mitte des Wiesenrunds. Dort setzte er sich mühsam hin, fuhr sich mit den Pfoten über die graue Schnauze und die Augen und wartete.
Jakob war mit Abstand der Älteste unter den Versammelten, und nach und nach trat wieder Ruhe ein. Es war, als warteten alle auf ein Zeichen von ihm. Und richtig! Als er sich sicher sein konnte, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden zu besitzen, verkündete er: »Heute ist die Nacht, in der wir die ›Große Klage‹ singen werden.«
Mehr sagte er nicht, doch Anne hatte das Gefühl, dass sich eine ungeheure Spannung aufbaute und dass alle sehr viel mehr wussten als sie selbst. Aber in diesem Moment eine Frage zu stellen erschien ihr äußerst unangemessen, und so wartete sie schweigend auf das Kommende. Diesmal stimmte Jakob das Lied an. Es unterschied sich völlig von der lustigen Weise des vorhergegangenen Werkes. Die Töne, die jetzt zum bleichenMond emporstiegen, waren voll Traurigkeit und Schmerz, Klagelaute kamen aus allen Kehlen. Selbst Ninas Stimme fügte sich der auf- und abschwellenden Melodie. Ohne es zu wollen, sang auch Anne plötzlich mit, und es klang wie Schluchzen in ihren Ohren. Verlegen schloss sie die Lippen und hoffte, dass sie damit keinen Anstoß erregt hatte, doch alle sangen selbstvergessen und inbrünstig. Nur Tiger saß stumm auf seinem Baumstumpf.
Der Mond schien voll auf sein Fell, und die weißen Haare am Bauch und im Gesicht glänzten silbrig.
Aufrecht saß er und stolz.
Anne blickte mit Bewunderung zu ihm auf, und in die unendliche Trauer der Großen Klage mischte sich zu den Klängen des Abschieds und der Wehmut ein Schimmer von Zuversicht und Hoffnung.
Dann endete das Lied mit einem letzten verhallenden Ton. Ohne weitere Worte löste sich die Versammlung so leise auf, wie sie zusammengetreten war.
Schwieriger Heimweg
Anne, Tiger, Nina und Jakob begaben sich gemeinsam auf den Rückweg, Jakob wirkte noch erschöpfter als vor der Versammlung, und so verlief der Abstieg in das Dorf langsam und gemächlich. Keiner der vier sprach, und Anne hing ihren Gedanken nach. Die Große Klage hatte sie tief beeindruckt. Sie spürte noch immer den dicken Kloß in der Kehle. Ohne die Kralle darauf legen zu können, hatte sie die Empfindung, in sehr naher Zukunft mit einem unglücklichen Ereignis konfrontiertzu werden, aber alles Grübeln brachte sie nicht weiter, sondern machte sie nur schwermütig.
Als sie den Bereich der ersten Häuser erreicht hatten, blieb Nina stehen und meinte, sie müsse allmählich nach Christian sehen. Sie stupste Tiger in die Seite und forderte ihn leise auf, Jakob noch sicher nach Hause zu geleiten.
»Er sieht einigermaßen fertig aus, Tiger.«
»Ist doch klar, Nina. Mach’s gut.«
Nina verabschiedete sich auch von Anne und sagte: »Wir treffen uns vielleicht noch mal.«
Sie gaben sich einen leichten Nasenstüber, dann sprang Nina in weiten Sätzen über die Straße davon.
Jakob hatte davon wenig mitbekommen, er war einfach langsam weitergehinkt und wirkte im Mondlicht ältlich und gebrechlich. Anne sah besorgt zu ihm hin, doch Tiger, der ihrem Blick folgte, beruhigte sie: »Dem fehlt nur eine ordentliche Portion Futter und ein paar Stunden Schlaf. Täusche dich in Jakob nicht, der ist zäh.«
»Wenn du meinst. Ich habe aber fast den Eindruck, er fällt uns gleich um.«
Genau in diesem Augenblick strauchelte der alte Kater auch schon und fiel ungelenk auf die Seite. Tiger und Anne sprinteten los. Als sie bei ihm ankamen, murrte Jakob schon wieder: »Verflucht unebener Weg hier, muss mit der Pfote irgendwo hängengeblieben sein.« Er schaute die beiden von unten an. »Was wollt ihr denn? Geht weiter, geht doch weiter! Ich komme gleich nach.«
Tiger machte einen ratlosen Eindruck, und Anne verstand ihn. Wenn er jetzt seine Hilfe anbieten würde, würde Jakob sein Gesicht
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