Der Tag mit Tiger - Roman
dar.
»Das mögt ihr sicher auch, obwohl ihr noch richtig beißen könnt. Jakob und ich haben da schon ein paar Probleme.«
Anne mochte Tartar sehr gerne und stürzte sich voll Wonne auf das Fleisch. Doch schon nach dem ersten Bissen erhielt sie einen Pfotenschlag hinter die Ohren und sprang verdutzt zur Seite. Tiger nahm sein königliches Vorrecht in Anspruch, seinen Anteil zuerst zu verzehren. Seine Ansichten über gerechtes Teilen waren sehr an seinen individuellen Maßstäbenorientiert, und so blieb für Anne nur ein winziger Rest übrig.
Inzwischen hatte Emil die Tür wieder geschlossen und die Gardine zugezogen. Anne war sich jedoch sicher, dass Jakob jetzt alle Liebe und Pflege erhalten würde, die er brauchte, um sich wieder zu erholen. Tiger und sie trollten sich.
Endlich ein paar Erklärungen
»Ich brauche ein Schlückchen Wasser«, brummelte Tiger und schlug die Richtung zur Brücke ein. Anne folgte ihm. Das Plätschern des kleinen Baches war schon ganz nahe zu hören, als Tiger plötzlich stehenblieb.
»Was ist los, Tiger, keinen Durst mehr?« Glasig schaute Tiger durch Anne hindurch. »Tiger, was hast du?«, insistierte sie besorgt.
Der Kater schüttelte heftig den Kopf und fuhr sich mit der Pfote über die Augen.
»Mein Kopf tut so weh«, antwortete er ganz leise.
»Dann ruh dich doch ein bisschen aus«, schlug Anne vor und setzte sich an den Wegesrand. Seltsam widerspruchslos fügte sich Tiger und legte sich neben sie ins weiche Gras. Er bettete den Kopf vorsichtig auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Anne beobachtete ihn schweigend. Nach einer Weile beugte sie sich zu ihm und leckte ihm, wie sie es von ihm gelernt hatte, das Fell auf der Stirn und zwischen den Ohren. Auch wenn Tiger keinerlei Reaktion zeigte, schien es ihm gut zu tun. Zumindest konnte er ein leises Schnurren nicht unterdrücken. Immer schön in Fellrichtung bürstete ihre raueZunge das kurzhaarige, braun-schwarze Fell bis zwischen die Augen, wo es in eine schiefe weiße Spitze überging. »Damit sieht er aus, als ob er einen immer leicht verrutschten Mittelscheitel trägt«, dachte Anne liebevoll.
Einige Minuten vergingen. Der Mond stieg höher am Himmel empor. Die Kirchturmuhr schlug eine halbe Stunde, und Anne unterbrach ihre Bürstenmassage, um zum Kirchturm zu schauen. Die Uhr zeigte bereits halb elf an, doch die Zeit hatte für sie irgendwie alle Bedeutung verloren.
Tiger war aus seinem wohligen Dösen aufgewacht und sah sie an, als sie sich ihm wieder zuwandte. »Das Schläferchen hat gut getan. Jetzt tut es fast nicht mehr weh.« Er streckte sich genüsslich, gähnte, schlug die Krallen in den Boden und machte einen wundervollen Buckel. Dann setzte er sich wieder hin und betrachtete schweigend den Mond. Anne tat es ihm nach. Doch nicht lange und sie wurde unruhig. Zu viele Fragen brannten ihr noch auf der Seele, und so versuchte sie, wenigstens ein paar Antworten zu erhalten.
Vorsichtig begann sie: »Du Tiger, darf ich dich etwas fragen?«
Er drehte seinen Kopf zu ihr herum. »Du fragst doch ständig – warum jetzt nicht auch?«, forderte er sie in der ihm eigenen verbindlichen Art auf.
»Diese Versammlung vorhin – also welchen Sinn hatte die eigentlich? Ich hatte das Gefühl, ihr habt euch alle sehr viel mehr mitgeteilt, als ich mitbekommen habe.«
»Das wird es wohl sein.«
»Ja, aber was macht ihr bei solchen Versammlungen?«, forschte sie hartnäckig nach.
»Wir denken über die großen Dinge nach. Über das Leben und die Welt und über den Lauf der Zeit.«
»Oh.« Anne war beeindruckt. »Also auch über das, was morgen geschieht?«
»Über das Vergangene und das Heute und natürlich auch über das Morgen.«
»Dann weißt du heute schon, zum Beispiel, welches Futter du morgen bekommst.«
Tiger reagierte äußerst ungehalten und versetzte in scharfem Ton: »Über solch niedere Dinge doch nicht. Futter, du meine Güte! Wir ergründen die geistigen Strömungen aller beseelten Wesen.«
»Ah ja, also beispielsweise auch die Wege der menschlichen Politik?«, versuchte sie zu spötteln, doch ihr Gesprächspartner nahm sie bitter ernst. Verachtung troff aus seiner Stimme, als er ihr antwortete: »Die Politik der Menschen kommt in ihrer Wertigkeit noch deutlich nach Futter.«
»Okay, das vermutete ich schon, aber das andere werde ich nie ganz verstehen. Entschuldige meine dummen Fragen.«
»Mhm.«
»Eine Frage habe ich aber noch. Wieso konnte ich nicht an dieser Form der Kommunikation
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