Der Tag mit Tiger - Roman
ebenerdiges Fenster offen war, und lief erneut einmal um das ganze Haus. Alle erreichbaren Fenster waren geschlossen oder die Jalousien zugezogen. Doch als sie hinter dem Haus die Kellertreppehinunterspähte, erkannte Anne den Schlüssel, der noch im Schloss der Tür steckte. An dem Schlüsselbund baumelte der Katzenschwanz langsam hin und her.
In der Zwischenzeit hatte Tiger das Katzentreppchen zum Balkon von Christians Wohnung erklommen und maunzte am gekippten Fenster nach Nina. Die war sofort munter und hörte sich die Kurzfassung von Tigers Geschichte mit wachsender Empörung an.
»Cleo, arme kleine Cleo«, widmete sie ihrer Freundin ein kurzes Gedenken. Dann wurde sie sehr schnell wieder ganz sachlich. »Natürlich werde ich Christian wecken, und anschließend laufe ich zu Anne hinüber, um ihr nötigenfalls zu helfen.«
»Ich werde mal in dem Nachbarhaus mit dem Turm ein wenig Krawall auslösen, danach komme ich auch zu Mazindes.«
»Viel Glück«, wünschte Nina.
»Bis dann.«
Tiger eilte das Treppchen hinunter, ohne auch nur einmal auszurutschen, und schlüpfte dann zwischen Hecken und Gartenzäunen zu Annes Nachbargrundstück, auf dem das alarmgesicherte Haus stand.
Die Bewegungsmelder waren an der Auffahrt, der Haustür und den zwei Verandatüren angebracht. Der untere am Gartentor zur Auffahrt löste nur eine Festbeleuchtung aus, die drei anderen verursachten einen infernalischen Lärm durch das Aktivieren eines akustischen Signals, das wie ein überdimensionaler Wecker losdröhnte. Als die Anlage vor einigen Jahren installiert worden war, hatten die sporadischen Fehlalarme, ausgelöst durch herumstreifende Tiere, den Bewohnern nichteben die Sympathie ihrer Nachbarn eingetragen. Einige Male aber war es auch kein Fehlalarm gewesen und hatte so die Bewohner vor Einbruch und Diebstahl bewahrt. Die Täter waren allerdings unerkannt entkommen.
Jetzt war es Tigers Bestreben, möglichst alle Systeme in Aktion zu setzen. Er begann am Gartentor. Der Infrarotstrahl war günstig angebracht. Etwa in Kniehöhe eines Erwachsenen sendete er seine Energie quer über den Gartenweg. Tiger durchschritt ihn mit erhobenem Haupt und aufgerichtetem Schwanz.
So, das Licht brannte.
Es blendete ihn kurz, aber dann hatten sich seine Pupillen an die gleißende Helligkeit gewöhnt, und er marschierte zügig voran, um sich den Alarmanlagen an den Fenstern zu widmen. Diese waren etwas höher, in der Griffhöhe der Türöffner angebracht und konnten nur durch Berührung ausgelöst werden. Früher waren sie niedriger installiert gewesen, aber die Besitzer hatten schließlich auch aus den Fehlalarmen gelernt. Die beiden gesicherten Fenster lagen etwa fünf Meter auseinander. Tiger wollte so schnell wie möglich einen Alarm auslösen, um dann zu verschwinden. Der Alarm am anderen Fenster und der an der Tür wäre dann nicht mehr nötig. Er lief auf die erste Glastür zu und sprang hoch, um den sensiblen Punkt mit der Pfote zu berühren. Nichts tat sich.
Anne hatte inzwischen einen weiteren misslungenen Versuch unternommen, um auf den Balkon zu gelangen. Sie wurde langsam nervös. Zu gut konnte sie sich ausmalen, wie sich das Feuer durch das benzingetränkte Holz nach oben fraß. Holzspäne, Terpentin, Farbeimer alte, trockene Holztäfelung …Ihr grauste. Dann aber besann sie sich auf ihre menschliche Maxime: Erst denken, dann handeln! Sie atmete einmal tief durch und stellte nüchtern fest, dass der Balkon zu hoch für sie war. Sie brauchte eine Stufe dazwischen. Suchend sah sie sich um.
Ein Gartenstuhl stand unter dem Balkon, doch der war zu niedrig. Aber Freds neuer Stall! Der könnte helfen! Er stand zwar ein bisschen weit weg vom Balkon, aber die Weite des Sprungs war nicht das Problem. Fred, unsanft aus dem Schlaf gerissen, sah die Katze auf sich zurasen und gab einen Laut des Entsetzens von sich.
»Entschuldigung, Fred, ich brauche deinen Stall, sonst gibt’s morgen wirklich Kaninchenbraten.«
»O weh, o weh, nicht doch, nein, nein, nein«, stöhnte Fred verzweifelt, als sein Stall wackelte, weil Anne mit einem Satz hinaufgesprungen war. Von hier konnte sie weiterkommen, stellte sie zufrieden fest. George und sein Sohn hatten ganze Arbeit geleistet. Der Stall stand auf vier soliden Beinen und war so hoch gebaut, dass ein Mensch, ohne sich zu bücken, zu Fred hineinschauen konnte. Jetzt noch einen weiten Sprung, und sie hatte es geschafft.
Nun galt es in ein Zimmer zu gelangen. Sie ging zum Fenster. Ja, die Balkontür
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