Der Tag mit Tiger - Roman
scheußlich nach verkohltem Pelz, aber das würde nachwachsen. Die Haut selber schien keinen Schaden genommen zu haben. Anne überwand ihren Ekel vor dem Geruch und leckte sanft und beharrlich die angesengten Haare ab.
Tiger hatte sich mittlerweile auch wieder aufgerappelt und begutachtete den Schaden an Ninas anderem Ende. Das zarte, fast durchsichtige rechte Schlappohr war arg verbrannt. Die Nase war ein bisschen gerötet, und die Schnurrhaare waren nicht mehr der Rede wert. Die Pfoten waren lediglich wund, das war das geringste Übel. Die Nase, gut, das war schmerzhaft,aber bald geheilt, und die Schnurrhaare würden schnell nachwachsen. Ihr Verlust bedeutete eine Zeitlang mehr eine gewisse Orientierungslosigkeit als Schmerz, doch hatte das keine entscheidenden Folgen. Am schlimmsten hatte es das Ohr erwischt. Hier würde mindestens eine lebenslange Narbe bleiben. Mit der weichsten, feuchtesten Stelle seiner Zunge begann er, das misshandelte, geknickte Ohr zu belecken. Dabei gab er die ganze Zeit leise gurrende, bedauernde und tröstende Laute von sich.
Nina erholte sich langsam. Sie öffnete die Augen und dehnte versuchshalber die Muskeln.
»Ich fühle mich wie ein gegrilltes Hacksteak«, lautete ihr erster Kommentar. »Aber das habe ich gut gemacht, nicht wahr?« Bei der letzten Bemerkung hatte sie schon wieder den Kopf gehoben und Tigers Fürsorge abgeschüttelt. »Ist alles noch dran?«, erkundigte sie sich und sah ihre beiden besorgten Helfer beklommen an.
»Na, deine Ohren waren noch nie dein Stolz. Eins davon wird wahrscheinlich ein bisschen verschrumpelt bleiben, der Rest heilt.«
Tiger, rau, aber ehrlich, gab ihr diese Auskunft.
»Meine Pfoten tun weh, und mein Schwanz riecht komisch«, erkannte Nina mit Bedauern, fasste sich aber gleich wieder. »Immer noch besser eine schwarze Schwanzspitze als gar keine. Was mich an den Schlüssel erinnert!«
»Der Schlüssel ist hier, und er hat sogar ein Namensschild.« Anne zerrte den Schlüsselbund herbei, den Nina bei ihrem letzten Sprung fallengelassen hatte.
»Dann sollte einer von euch den jetzt zu Minni bringen«, schlug Nina vor.
»Nichts da, den wirst schön du zu Minni tragen. Die paar Meter schaffst du schon noch.« Tiger stupste sie zum Aufstehen in die Seite.
»Ja, das finde ich auch«, pflichtete ihm Anne bei. »Schließlich hast du ihn unter Einsatz deines Lebens hochgeholt.«
»Aber eigentlich möchte ich jetzt viel lieber nach Hause in mein Körbchen und meine Wunden lecken. Hier ist doch soviel Durcheinander.« Nina wollte sich nicht zum Aufstehen drängen lassen.
»Bis zu deinem Körbchen ist auch noch ein weiter Weg. Und da vorne ist Christian, der wird dich sicherlich tragen, wenn er dich sieht.«
Anne versuchte, an ihre Vernunft zu appellieren, da sie ahnte, dass Nina das Aufsehen scheute, das ihr diese Heldentat einbringen würde. Damit hatte sie das Richtige gesagt. Nina erhob sich, schnappte sich den Schlüssel am Schlüsselbund und ging, wobei sie die verbrannten Vorderpfoten sehr vorsichtig im weichen Gras aufsetzte, in Richtung Terrasse.
Tiger und Anne begleiteten die hinkende Kätzin noch bis zur Gartenecke, wo sie gemeinsam erkennen konnten, dass Minni und Christian sich dort noch aufhielten.
»Gut jetzt, Nina. Dein Auftritt!«
Tiger hielt an, und Anne blieb neben ihm stehen. Nina ließ den Schlüssel fallen und drehte sich zu Tiger um. Stumm blickten sich beide eine Weile in die Augen. Dann berührte Tiger ganz vorsichtig Ninas Näschen.
Anne fühlte, dass sie hier Zeuge einer ganz privaten Szene wurde, obwohl sie nicht wusste, worum es ging. Taktvoll bestaunte sie den Mond. Kurz darauf war Nina bei ihr.
»Mach’s gut, Anne«, sagte sie leise und ein bisschen heiser.Sie näherte ihre gerötete Nase Annes Gesicht und pustete ihr ganz sanft ihren Atem zu. Es fühlte sich wie ein Küsschen an, und Anne war gerührt.
»Liebe Nina«, flüsterte sie und wollte noch etwas anfügen, aber Nina hatte den Schlüsselbund schon wieder aufgenommen und schritt ohne einen weiteren Blick zurück auf die Menschen zu.
Ninas Auftritt
Feuerwehr, Rettungssanitäter und Polizei hatten inzwischen ein hilfreiches Durcheinander verursacht. Die Kinder waren in Decken gehüllt in einem Krankenwagen untergebracht worden, und Elly wurde auf eine Trage gebettet. Sie war wieder zu sich gekommen, als man ihre blutende Platzwunde versorgte, und sah jetzt ihren Mann und Christian an, die neben ihr standen und beruhigend auf sie einredeten.
Ein
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