Der Tag mit Tiger - Roman
wohl in seinen letzten Bewegungen – seine beiden Vorderpfoten in Annes Hand gelegt.
Lange sah sie auf ihn herab und wagte nicht, die Hand wegzuziehen. Vage Erinnerungen an einen wirren Traum schwammen durch ihr Bewusstsein: Fell, Wärme, leise, sanfte Pfoten und das Wissen um eine unendliche Liebe. Sie gab sich träumerisch diesen schwindenden Eindrücken hin und streichelte geistesabwesend den getigerten Rücken. Irgendwoher schwangen in ihren Gedanken die Satzstückchen: »Es sind so viel mehr Leben … Wir sehen uns wieder, so oder so …«
Anne wusste nicht, wer das zu ihr gesagt oder ob sie es irgendwo gehört oder gelesen hatte, aber seltsam getröstet richtete sie sich dann ganz auf und zog langsam und vorsichtig die Hand unter Tigers weißen Pfoten weg.
Ein benommener Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits kurz vor halb neun war. Da es Samstag war, hatte sie zwar keinen Termin versäumt, aber fühlte sich doch schuldbewusst, an ihrem »Haushaltstag« verschlafen zu haben, und taumelte ins Bad. Aus dem Spiegel schaute ihr ein zerknittertes, zerrauftes Gesicht entgegen, das sie mit Mühe als das ihre erkannte. Sie hatte sich wohl nachts ein Pickelchen aufgekratzt, denn über ihrer Nase war ein dünner Kratzer zu erkennen. Dann bemerkte sie zu allem Überdruss auch noch den abgebrochenen Fingernagel des linken Mittelfingers und knabberte zornig an den ausgefransten Überresten wochenlanger Maniküre-Bemühungen. Anschließend schnüffelte sie angewidert und bemerkte das umgekippte und zerbrochene Parfümfläschchen.
»Magnolien!« Anne feuchtete einen Lappen an und wischtedie eingetrockneten Spuren vom Beckenrand. Gerade als sie sich dann zu einer heißen Dusche ausziehen wollte, hörte sie aus dem Wohnzimmer jemanden rufen.
»Hallo, niemand zu Hause?«
»Moment, komme gleich«, rief sie zurück und fuhr sich mit den nassen Fingern durch das Haar, was ihre Ähnlichkeit mit einem übernächtigten Igel nur noch unterstrich.
Ihr Nachbar Christian Braun stand in der offenen Terrassentür und entschuldigte sich. »Ich habe geläutet, aber es hat niemand aufgemacht. Weil die Tür hier offen war, dachte ich mir, dass Sie zu Hause sind. Ich hoffe, ich störe nicht?«, schloss er seine kleine Entschuldigungsrede ab.
Anne sah den großen, blonden Eindringling mit der cremefarbenen Katze um die Schultern erstaunt an. »Äh … Nun, na ja …« Ihr fehlten bei dem Anblick die Worte. Dann sammelte sie sich und besann sich der Grundformen der Höflichkeit.
»Sehen Sie, ich bin gerade erst aufgewacht … Kommen Sie doch herein. Ich mache uns Kaffee.« Ein zögerliches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Den brauche ich jetzt nämlich.«
Christian kam über die Türschwelle, und Nina zappelte auf seiner Schulter. Zu dem dunkelgrünen Sweatshirt hob sich ihr blasses Fell außerordentlich geschmackvoll ab, aber die schwärzliche Wunde an ihrem Ohr verdarb etwas den Gesamteindruck. Auch der wie gerupft aussehende Schwanz mit seiner versengten Spitze verstieß gegen das gängige Schönheitsideal einer Rassekatze.
»Einen Kaffee nehme ich gern an. Diese Nacht habe ich auch ziemlich wenig Schlaf gehabt«, erwiderte Christian und ließ die zappelige Nina von der Schulter in seine Arme gleiten. »Darf ich Nina herunterlassen? Sie sieht zwar ein wenig zerlumptund übernächtigt aus, ist aber ganz sauber und von gutem Benehmen.«
Ninas Blick sprach Bände.
»Dann hat sie viel mit mir gemeinsam«, erwiderte Anne, die sich langsam klar darüber wurde, dass sie aussah, als habe sie in der Nacht einen Zug durch die Gemeinde gemacht.
Christian lachte leise auf, als er seine Katze vorsichtig auf den grauen Teppichboden absetzte, der nicht so gut zu ihrer Farbe passte. Das dunkelblaue Sofa schien da schon mehr ihrem ausgesuchten Geschmack zu entsprechen, und sie schlich sich vorsichtig in seine Nähe. »Sie haben von den Ereignissen heute Nacht überhaupt nichts mitbekommen, wie mir scheint. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil Ihre Katze zusammen mit meiner Nina dabei eine heldenhafte Rolle gespielt hat und ich mich erkundigen wollte, wie es Ihrem Tiger geht.«
Anne erstarrte. Schweigend blickte sie durch Christian hindurch.
Nina hatte inzwischen das Sofa erreicht und sprang hoch. Da saß sie neben dem toten Tiger und stupste leicht mit ihrer geröteten Nase an seine Ohren. Dann setzte sie sich auf, und aus ihrer Kehle klang ein äußerst misstönendes Jaulen, das sich so leidenschaftlich und traurig anhörte, dass Anne
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