Der Tag wird kommen
angenommen, es ist was schiefgelaufen und ein richtig schlechter Mensch ist entstanden, wäre es dann nicht am besten, ihn zu beseitigen? Um zu verhindern, dass er anderen Menschen schadet? Und am Ende noch selbst Kinder zeugt, die böse werden?
Fera:
Kann sein. Nur wie sollte man das machen? Man weiß ja nicht, was derjenige anstellt, bevor er es tut.
Hans Petter:
Aber was, wenn man es mit Sicherheit wüsste?
Fera:
Ich kann nicht sagen, was der Rat in diesem Fall unternehmen würde. Was würdest du denn tun?
Hans Petter:
Ich finde, schlechte Menschen sollte man beseitigen, bevor sie ihre Bösartigkeit weitergeben können.
Fera:
Vielleicht hast du recht. Aber was, wenn ein Mensch, den andere für böse halten, jemand ist, den du gern magst?
Hans Petter:
Ein schlechter Mensch ist ein schlechter Mensch. Da muss man eingreifen. Es ist doch nicht zu fassen, was Andreas sich alles erlauben kann. Seine Mutter ist wahrscheinlich die Einzige, die ihn nicht für böse hält.
Fera:
Ich bin auf jeden Fall froh, dass wir es so gut geschafft haben, das Risiko von Bösartigkeit zu minimieren.
Hans Petter:
Deine Freunde sind ja nun auch keine Engel.
Fera:
Sie sind langweilig. Und manchmal ein bisschen gemein. Aber sie sind nicht böse.
Hans Petter:
Na gut, vielleicht stimmt es ja wirklich, dass kontrollierte Fortpflanzung das Vernünftigste ist. Alles andere schafft viel Unordnung.
Andreas hält sich zurück. Ich weiß nicht, ob es an den Fotos liegt, die ich ihm geschickt habe. Aber ich hoffe es. Eigentlich hatte ich mit einer Antwort-Mail gerechnet, mit einem verzweifelten Wer bist du? Oder einem einschmeichelnden Wollen wir uns treffen? Möglicherweise auch mit einer Drohung – Wage es ja nicht! Doch er hat keinen Mucks von sich gegeben. Ich behalte ihn unauffällig im Auge. Hin und wieder zwinkert er mir immer noch zu. Aber heißt das jetzt Ich weiß, was du vorhast? Ist das so was wie eine neue Art Respekt, was ich in seinem Zwinkern lese, oder sind es dieselben alten Drohungen?
Fest steht, der nächste Schritt ist fällig. Das Video kann ich ihm nicht schicken. Es wirkt bedrohlicher, wenn er sich in seiner Fantasie ausmalt, was es zeigt. Ich muss die Schraube fester ziehen, aber ich weiß nicht genau, wie.
Viel schlimmer ist, dass Gunnar rumläuft wie eine tickende Zeitbombe. Er weiß, dass ich Bescheid weiß, aber noch haben wir nicht darüber gesprochen, noch habe ich ihn und Mum nicht zusammen gesehen. Es ist eine Qual, im selben Raum mit ihm zu sein. Ich merke, dass er versucht, meinen Blick einzufangen. Natürlich habe ich die Gruppensitzung auch in dieser Woche geschwänzt. Der soll nur kommen und sich beschweren! Sogar er muss geschnallt haben, dass es keine gute Idee wäre, mich jetzt zum Mitmachen zu zwingen. Ich fürchte jeden Tag, dass die Bombe platzt, dass er seine Affäre mit Mum ausposaunt, dass es zum Thema wird und sich in der ganzen Schule verbreitet … und ich in einem klebrigen Sumpf aus Gelächter und Prügel feststecke. Und jeden Tag verfolgt mich die Schule bis nach Hause und sitzt zwischen mir und Mum auf dem Sofa. Das Warten ist ermüdend. Mir wäre fast lieber, es wäre schon überstanden.
»Na kommt, Leute. Ich weiß, es ist die letzte Stunde. Wir sind alle erschöpft. Glaubt mir, ich kann mir jetzt auch was Schöneres vorstellen, als mit euch neunorwegische Grammatik zu machen, aber Lehrplan ist Lehrplan. Jetzt reißt euch mal zusammen!«
Gunnar sieht überhaupt nicht erschöpft aus. Er hat strahlende Laune. Er trällert zwar nicht so vor sich hin wie Mum, aber das macht es auch nicht besser. Als ich vorhin ins Klassenzimmer kam, hat er mir zugenickt. So nach dem Motto: schön, dich zu sehen. In dem Moment hätte ich ihn umbringen können, wenn es nicht durch Gesetze und soziale Regeln verboten wäre. Und wenn ich nicht ein Schwächling ohne Waffe wäre. Die Ehre seiner Mutter zu verteidigen, das müsste einem doch mildernde Umstände einbringen, oder? In irgendeinem Teil der Welt ist das bestimmt erlaubt.
Die anderen in der Klasse teilen Gunnars Begeisterung nicht. Ein zusammengeknüllter Zettel fliegt über meinen Kopf hinweg. Handys vibrieren. Es ist wie ein kollektiver Anfall von Kribbeln im Körper, als hätten alle plötzlich Flöhe. Jeder andere Lehrer würde sofort einsehen, dass alle weiteren Versuche, uns den Stoff einzutrichtern, sinnlos sind. Vielleicht würden sie den Unterricht fortsetzen, aber wohl kaum mit diesem Elan.
Nicht so Gunnar.
Ich weiß nicht,
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