Der Talisman (German Edition)
konnte nicht ahnen, dass ihn diese Heilung in heftige Schwierigkeiten bringen würde. Denn während Yasha friedlich in seiner Hängematte schlief, hockte eine hagere, dunkle Gestalt auf dem Platz vor dem Steingott und schwor dem Jungen bittere Rache.
Von nun an durfte sich Yasha frei im Dorf der Liaweps bewegen. Er konnte Kräuter und Pflanzen sammeln. Jeden Abend heilte Yasha nun vor der Steinstatue Kranke. Dabei dachte er ständig daran, dass er mit seinem Talisman versuchen musste, die Statue zu berühren. Aber die Liaweps bewachten den steinernen Gott gut. In ihren Augen war es ein großer Frevel, die Statue anzufassen. Yasha versuchte es mit verschiedenen Tricks. So zögerte er seine Heilarbeiten heraus und verlangte, dass sich der Kranke näher an die Statue stellen solle. Aber seine kleinen Tricks blieben erfolglos. »Geduld!«, dachte Yasha. »Irgendwann ergibt sich eine günstige Gelegenheit.«
Doch eine andere Person hatte keine Geduld. Der alte Medizinmann duldete nicht, dass Yasha ihm seine »Show« stahl. Mit Sorge sah Yasha den Hass in seinen Augen Und ihm war klar, dass er sich einen mächtigen Feind geschaffen hatte.
Es begann
mit einem Jungen,
den Yasha von einer schlimmen Entzündung im Bein geheilt hatte. Am nächsten Tag war er tot. Eine Frau, die nach der Geburt ihres Kindes an Fieber erkrankt war, hatte Yasha auch geheilt – sie starb am gleichen Tag wie der Junge. Tief erschüttert folgte Yasha dem Trauerzug. Er sah mit Erstaunen, dass die Liaweps ihre Verstorbenen nicht begruben. Man legt sie auf hohe Bäume in der Nähe des Dorfes. Valo, der Yasha in der letzten Zeit aus dem Weg gegangen war, erzählte: »Sobald ein Fest gefeiert wird, werden die Toten von den Bäumen geholt, um daran teilzunehmen. Die Angehörigen bitten sie auch regelmäßig um Vergebung für Dinge, die sie den Toten zu Lebzeiten angetan haben.« Es starben noch mehr von Yashas Patienten. Wenige Tage später schlich der Junge sich heimlich zu den Totenbäumen. Dort untersuchte er diejenigen, die nach seiner Behandlung gestorben waren. Dabei fiel ihm auf, dass alle Toten drei kleine rote Pünktchen am linken Handgelenk hatten. Yasha betastete die Verletzungen, dabei trat ein wenig transparente Flüssigkeit aus den Wunden. Das könnte Schlangengift sein, erkannte er entsetzt. Yasha war so sehr damit beschäftigt, auf dem hohen Baum die Balance zu halten und von einem Toten zum anderen zu klettern, dass er nicht bemerkte, wie der Medizinmann am Rand der kleinen Lichtung erschien.
Sein Körper war über und über mit grauer und brauner Farbe bedeckt. Der hagere Mann mit dem zotteligen Haarschmuck aus Pflanzenfasern hatte eine unheimliche Bemalung: Sie stellte ein Skelett dar.
Dass Yasha oben in einem der Totenbäume saß, bemerkte er nicht. Das dichte, grüne Laub verbarg den Jungen. Der Medizinmann setzte sich ins Gras und begann leise Beschwörungsformeln zu murmeln. Sorgsam breitete er die Opfergaben, die er mitgebracht hatte, vor sich auf den Boden aus. Es waren kostbare Geschenke, seinen schlechten Taten angemessen. Denn der Medizinmann musste die Vergebung seiner Opfer erflehen, damit sie ihn nicht verfolgten. Vor allem die fünf toten Giftschlangen, die er sorgfältig nebeneinander aufreihte, würden ihn fürs Erste vor der Rache der Toten schützen.
Aber es fiel dem Medizinmann heute schwer, sich auf die notwendigen Rituale zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Seit dieser kleine weiße Teufel, so nannte er Yasha insgeheim, den Häuptling geheilt hatte, war er selbst als Medizinmann abgeschrieben. Wie lange musste er sich noch gedulden, bis den Dorfbewohnern auffiel, dass ungewöhnlich viele Menschen starben, nachdem der weiße Teufel sie behandelte? Die Vorfreude, dass er Yasha bald aufessen und sich so seine Heilkräfte einverleiben könnte, gab ihm Trost. Dann wäre er der mächtigste Medizinmann der Liaweps, nein, der mächtigste von ganz Papua-Neuguinea!
Während der
Medizinmann über diesen
Gedanken brütete, sah er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung – der kleine weiße Teufel. Er hatte ihm nachspioniert! Zischend zog der Medizinmann die Luft ein und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er wartete, bis Yasha außer Sichtweite war, und eilte ebenfalls ins Dorf. Es war Nacht geworden, ein heftiger Monsunregen prasselte auf das Dorf nieder. Aber weil es immer warm war, störte der Regen nicht besonders. Yasha saß im Schneidersitz unter dem Dach seiner Hütte und
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