Der Talisman (German Edition)
Mond erschien am Horizont. Es war Zeit zu gehen.
Sie eilten zum Dorfplatz. Dort waren schon alle Dorfbewohner versammelt. Auch sie hatten gelbe und weiße Kreise um ihre Augen. Als i-Tüpfelchen klebte eine Seetaubenfeder auf ihren Nasen. Das hatte zur Wirkung, dass sie alle leicht schielten. Und falls das böse Auge sich hier herumschlich, hätte es das sicher nicht gern. Die Menschen saßen im Kreis um ein Zelt, das aus Seetang geflochten war. In dem Zelt saß die kleine Braut. Sie war in einen riesigen Schleier gehüllt, der über und
über mit zarten rosa Muscheln bestickt war.
Ein leichter Wind erhob sich und die Muscheln auf dem Schleier klimperten wie tausende von Glöckchen. Der Riese stand rechts vor dem Zelt, Alumentai links. Auch sie hatten die Augen angemalt und eine Feder auf der Nase. Das Ganze war wirklich sehr merkwürdig und Yasha musste sich kneifen, um zu wissen, dass es wirklich kein Traum war. Zusammen mit seinen beiden Begleitern näherte er sich dem Zelt.
Dann fing die Zeremonie an. Es dauerte ewig. Als sie endlich zu Ende war, wurde Marisa in die Kiste gesetzt und von zwei Wächtern zu ihrem neuen Haus gebracht. Die Kiste war ganz bunt, denn die Stofffetzen, die die Dorfbewohner schwenkten, als Yasha mit dem Schiff ankam, waren jetzt wie eine Girlande um die Kiste gebunden. Yasha und seine zwei Ebenbilder folgten der Kiste zusammen mit dem Riesen und Alumentai. Flöte spielend gegen das böse Auge gingen hinter ihnen die anderen Inselbewohner. Vor Yashas Haus angekommen, brüllte der Riese: »Öffnet das Tor!« Die Wachen öffneten die Perlmutttür. Dann schrie der riesige Pirat, auf den Kasten zeigend: »Aufmachen!«
Die kleine Braut
Marisa
stieg aus. »Euer neues Zuhause!«, rief der Riese mit gerührter Stimme. Yasha legte Steju unauffällig die Hand auf die Schulter. »Auf Wiedersehen, Steju!«, flüsterte er. »Geh jetzt schnell und seid glücklich!« Unter dem Jubel der Menschen verschwand das Brautpaar, niemand achtete auf Yasha. Leise verschwand er im Halbdunkel der Nacht. Aus der Ferne sah er, wie Alumentai dem Riesen die Muschel gab. »Horch!«, sagte sie und hielt die riesige Muschel an sein Ohr. »Jetzt hört er meine Stimme«, sagte Yasha zu seinem Talisman. »Wie wird er reagieren?« Vor Aufregung zitterte er. Dann sah er die Tränen des Riesen. Sie verschmierten die gelbweißen Kreise um seine Augen. Aber Alumentai war eine kluge Frau. Sie sagte in diesem Moment das einzige, was ihn trösten konnte: »Riese, sei nicht traurig! Nun bist du reicher. Du hast jetzt zwei Söhne.«
Da drehte
sich der Riese
zu den Dorfbewohnern und grölte: »Rum! Holt den Rum! Jetzt wollen wir feiern!«
Beruhigt flüsterte Yasha seinem Talisman zu: »Talisman, lieber Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche nach Budapest zurückzukehren!«
Ein seltsamer Nebel umschlang den Jungen und hob ihn hoch über Cabeluda. Als die Insel langsam in der Ferne verschwand, kamen Yasha die Tränen. Er dachte an den Riesen, an Alumentai und an Steju. Vielleicht würde er sie nie wiedersehen. In Gedanken wünschte er ihnen alles Gute und dass Marisa und Steju glücklich werden sollten.
Viele Jahre später hörte Yasha, dass es an jenem Abend ganz unerwartet für die Jahreszeit auf Cabeluda geregnet hatte. Bei Hochzeiten sagt man: Regen bringt Segen. So gebar Marisa ein Jahr später einen Sohn. Steju und sie nannten ihn: Salvi-Co-Ilu den Zweiten.
Olav Zürban kehrte, nachdem ihm Yasha bei den Liaweps entkommen war, eilig in den Dunkelwald zurück. Diesmal fragte er seine Schwester nicht um Erlaubnis, ob er die kalte Quelle der Zeit für seine Zwecke nutzen durfte. Er wollte der dunklen Seherin aus dem Weg gehen, bis er den Jungen in seiner Gewalt hatte. Denn allmählich wurde ihm sein Misserfolg in dieser Angelegenheit peinlich. Hastig ließ er sein braunes Auge in das Wasser gleiten und murmelte »Yasha, wo bist du?«
Der Himmel
über dem Berg
Uriso versteckte sich hinter dicken Regenwolken. Zirkus Pilori hatte dort seine Zelte aufgeschlagen. Dicke Tropfen trommelten auf das Dach des Wohnwagens. So düster wie das Wetter war auch die Stimmung von Monsieur Pilori. Er saß an dem alten Tisch und betrachtete bedrückt den Stapel unbezahlter Rechnungen, die sich vor ihm auftürmten. Woher sollte er nur das viele Geld nehmen? Seit Steju den Zirkus verlassen hatte, waren immer weniger Zuschauer in die Vorstellungen gekommen. Er brauchte dringend eine neue Attraktion, sonst würde er seinen Zirkus
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