Der Talisman (German Edition)
schleppten.
Durch die Fenster
fielen Sonnenstrahlen
in den dunkel getäfelten Raum. Die kleine Heiligkeit saß im Schneidersitz auf einem schweren geschnitzten Thron. Neben dem Kind standen die grau gekleideten Herren. Vor dem Thron stand der Kapitän mit seinen beiden Adjutanten. Gerade sagte er: »Die Führung in Peking legt größten Wert darauf, dass der kleine Lama endlich spricht!« Darauf erwiderte einer der grau Gekleideten: »Ja, ich weiß, ich weiß! Wir haben einen Arzt gefunden, der noch die alte chinesische Heilkunde praktiziert. Er wird die Medizin aus den …«.
Schlagartig verstummte das Gespräch, als Yasha in den Raum gestoßen wurde. Verärgert über die Störung fuhr der Kapitän herum. Bevor er seinem Unmut Luft machen konnte, machte die kleine Heiligkeit eine Handbewegung. Es war ein Befehl – und einer der grauen Herren brachte Yasha zum Thron. Gegen das Licht konnte Yasha nur den Schatten des kleinen Lamas erkennen. Als sich die kleine Heiligkeit zu ihm herunterbeugte, sah Yasha, dass der kleine Junge besorgt aussah. Es wurde totenstill im Raum, nur das Gewand des kleinen Lamas raschelte leise, als er die Hände auf Yashas Gesicht legte. Yasha wurde angenehm warm und er spürte etwas Heilendes, die Verletzung an seiner Nase hörte auf zu bluten. Zu Yashas Erstaunen verschwand auch der Schmerz, als wenn der kleine Lama ihn mit seinen Händen aufgesaugt hätte. Der kleine Lama zog seine Hände zurück und richtete sich auf. »Yasha soll bei mir bleiben!«, forderte die kleine Heiligkeit mit klarer Stimme.
Der Kapitän, seine Adjutanten und die grauen Männer starrten den kleinen Lama erstaunt an. »Er hat gesprochen! Das erste Mal seit drei Jahren hat der Lama gesprochen!« Aufgeregt blickten sie zwischen der kleinen Heiligkeit und Yasha hin und her. Wie ein Pendel bewegten sich ihre Köpfe – von rechts nach links, von links nach rechts. »Bringt den Lama in sein Zimmer! Sie, Dr. Feng, dürfen auch gehen! Kümmern Sie sich um die Medizin aus den Dracheneiern! Und beeilen Sie sich, die Leute in Peking sind bereits ungeduldig!«, befahl einer der grauen Herren barsch. Der Kapitän deutete widerwillig eine Verbeugung an, bevor er die kleine Heiligkeit von ihrem Thron hob und sie aus dem Raum trug. »Und nun zu dir, Langnase!«, sagte der graue Mann und kam auf Yasha zu.
Zur gleichen Zeit
braute sich in Ungarn weiteres Ungemach zusammen. Der Wind fuhr durch die Baumkronen des Halbdunkelwaldes. Das Wasser der kalten Quelle der Zeit rann unablässig aus seinem steinernen Becken, um sich dann als kleines Bächlein durch das leuchtend grüne Moos davonzumachen.
Stöhnend erhob sich die dunkle Seherin und rieb sich die schmerzenden Knie. Die beiden letzten Gesichter, die sie in der Quelle gesehen hatte, schienen unter einem magischen Schutz zu stehen. Das Wasser hatte zwar den Namen Gössler gemurmelt, aber es war ihr nicht möglich, herauszubekommen, wo die beiden Gösslers sich gerade befanden und in welcher Beziehung sie zu Yasha standen. Nachdenklich betrachtete die dunkle Seherin die lange Liste mit Namen und Adressen. Schließlich zuckte sie mit den Achseln. Das waren genug Menschen, die von Yasha geliebt wurden. Sogar wo seine Eltern sich aufhielten, hatte ihr die kalte Quelle der Zeit verraten. Unter die Zeile »Panna und Androsh sind in Budapest«, krakelte sie den Namen Gössler und malte ein Fragezeichen daneben. Dann machte sich die dunkle Seherin eilig auf den Weg zur Baumruine, wo Olav Zürban schon ungeduldig auf sie wartete.
Die grauen Männer hatten sich in einer Ecke des Raumes an einen Tisch gesetzt und diskutierten miteinander. Schließlich standen sie auf und ihr Wortführer sagte zu Yasha: »Du bleibst hier und arbeitest für uns, Langnase! Denke immer daran, dass der Lama ein gefährlicher Unruhestifter ist. Interessiere dich für sein Wissen! Die Regierung in Peking hat viele Fragen. Fang mit Fragen zur tibetischen Heilkunde an! Wie hat es der kleine Teufel geschafft, dass sich deine Wunde an der Nase so schnell schließen konnte? Man wird dich jetzt in deine Unterkunft bringen und später abholen, damit du dem Lama Gesellschaft leistest!« Yasha war schockiert: Er sollte die kleine Heiligkeit ausspionieren.
Ein chinesischer
Soldat eskortierte
Yasha zu seiner Unterkunft. Auf dem Innenhof trafen sie auf die Männer mit der Kiste. Zwei der Dracheneier lagen zerbrochen am Boden. Nervös hüpfte Dr. Feng herum und regte sich furchtbar auf. Mit dünner, hoher Stimme
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