Der Talisman (German Edition)
Satz des kleinen Mönches »… Kapilavastu in den Sand geschrieben!«, löste bei Yasha eine Erinnerungsflut an Gedanken aus. Er wusste genau, wer der kleine Junge war. Die kleine Reinkarnation aus Tibet! Damals war der Junge höchstens zwei Jahre alt gewesen, dann war er jetzt sieben, schätzte Yasha rasch. Für einen kurzen Moment fühlte er sich hin- und hergerissen. Einerseits musste er nach Budapest zu seinen Eltern, andererseits wollte er die kleine Reinkarnation nicht im Stich lassen. Schließlich siegte der Wunsch, dem kleinen Mönch zu helfen. In diesem Moment leuchtete der Talisman auf. Erleichtert strich Yasha über den steinernen Schmetterling: »Danke, dass du mir zustimmst, Talisman! Ich werde deine Hilfe brauchen!« Vor der Gangway des Dampfers hatten zwei Männer Position bezogen. Kerzengerade marschierten sie hin und her. Wie sollte Yasha bloß ungesehen an ihnen vorbeikommen? In der Ferne hinter den Lagerhäusern erklangen schwere Schritte. Yasha lächelte erleichtert, denn nun hatte er eine gute Idee. Hastig verließ Yasha sein Boot und flitzte zu den Lagerhäusern. Es dauerte eine Weile, bis er in der Dunkelheit gefunden hatte, was er suchte. Grinsend hob er einen Stock auf. Dann drückte er sich flach an die Ecke eines Schuppens und wartete.
Zwischen den Lagerhäusern erschienen Männer. Ihre weißen Uniformen leuchteten in der Dunkelheit. Sie schleppten eine lange, schwere Kiste. Als die chinesischen Matrosen ganz dicht an ihm vorbeizogen, sah Yasha Schweißperlen auf ihren angespannten Gesichtern glänzen. Erstaunt bemerkte er, dass alle Männer einen Mundschutz trugen. »Jetzt, Yasha!«, feuerte er sich an und ließ den Stock dreist nach vorne schnellen. Der letzte Mann kam ins Stolpern und ließ die Kiste fallen. Das brachte die ganze Kolonne aus dem Gleichgewicht. Das Durcheinander nutzend schlüpfte Yasha zwischen die Träger. Die Männer schimpften verärgert mit dem armen Pechvogel, den er zu Fall gebracht hatte. Der Arme tat Yasha richtig leid. Erst als der Offizier mit scharfer Stimme »Vorwärts, Genossen!« bellte, setzten sich die Träger wieder in Bewegung. Yasha hielt den Kopf tief gesenkt, als er mit den chinesischen Matrosen die schwere Kiste über den nächtlichen Pier schleppte. Die Wachen vor dem Schiff grüßten zackig und ließen den Trupp passieren. Yasha atmete erleichtert auf. Bis jetzt war alles gut gegangen, aber der schwierigste Teil lag noch vor ihm.
Kaum war
die Kiste
an Bord, begannen die Matrosen mit dem Ablegemanöver. Befehle wurden gebrüllt, Menschen eilten hin und her, die Ankerkette rasselte laut, dann ein heftiger Ruck und schon legte der Dampfer ab. Das Deck vor ihnen war in grelles Licht getaucht. Es wurde höchste Zeit für Yasha, sich aus dem Staub zu machen, bevor man ihn entdeckte. Noch befanden sie sich im Schatten der Deckaufbauten. Links über der Reling hing eine Reihe Rettungsboote. Eine Tür öffnete sich und einige Offiziere traten an Deck. Die Trägerkolonne blieb stehen, stellte die Kiste ab, nahm Haltung an und salutierte, während die Offiziere vorbei eilten. Vorsichtig trat Yasha einen Schritt zurück, dann noch einen. Nun hatte er die Reling im Rücken. Niemand schien etwas gemerkt zu haben. Es kostete Yasha große Überwindung, sich umzudrehen. Wie ein Matrose, der gerade Freizeit hat, lehnte er nun an der Reling und schaute aufs Meer. Um seine Rolle perfekt zu spielen, hätte er jetzt eigentlich lässig ins Wasser spucken müssen, aber das ging nicht, sein Mund war ganz trocken. Angespannt wartete Yasha auf den Moment, an dem die Träger die Kiste wieder aufnehmen würden. In seiner Phantasie spürte er den Griff kräftiger Hände in seinem Genick, falls die Chinesen sein Täuschungsmanöver bemerken würden.
Endlich hörte Yasha
den Stoff der
Uniformen rascheln, die Männer schnauften leise, als sie die schwere Kiste wieder aufnahmen. Dann marschierte der Trupp weiter. Seine Hände hatten Schweißspuren auf der Reling hinterlassen. Vorsichtig vergewisserte sich Yasha, dass ihn niemand beobachtete. Dann schwang er sich mit weichen Knien auf die Reling, um sich in einem der Rettungsboote zu verstecken.
Unter der Plane des Rettungsbootes war es stockdunkel. Leise tastete Yasha herum. Unter einer Bank fühlte er etwas Kantiges – eine Kiste vielleicht. Neugierig zog er sie hervor. Die Kiste war vollgepackt bis unter den Rand. Seine Finger spürten ein Seil, ein paar Konservendosen, dann knisterte es verheißungsvoll. Eine Tüte,
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