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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Strohmutter-Dasein ist nichts für mich. Irgendwie fehlt mir etwas, wenn du nicht hier herumschleichst und mir sagst, wie ich mit Kellnern umzugehen habe.«
    »Du hast eben zu viel Klasse für die meisten Kellner, das ist das Problem«, sagte Jack und glaubte, vor Erleichterung weinen zu müssen.
    »Geht es dir gut, Jack? Sag die Wahrheit.«
    »Natürlich geht es mir gut«, sagte er. »Ja, es geht mir wirklich gut. Ich wollte mich nur vergewissern, dass du – du weißt schon.«
    Im Telefon wisperte es elektronisch, eine atmosphärische Störung, die sich anhörte wie Sand, der über den Strand geweht wird.
    »Ich bin okay«, sagte Lily. »Mir geht’s prächtig. Jedenfalls nicht schlechter, wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst. Im Übrigen wüsste ich gern, wo du bist.«
    Jack schwieg einen Moment, während die atmosphärischen Störungen wisperten und zischten. »Ich bin jetzt in Ohio. In ein paar Tagen treffe ich Richard.«
    »Wann kommst du nach Hause, Jacko?«
    »Das kann ich nicht sagen. Ich wollte, ich könnte es.«
    »Du kannst es nicht sagen. Weiß der Himmel, Junge, wenn dir dein Vater nicht diesen albernen Namen gegeben hätte – und wenn du mich zehn Minuten früher oder zehn Minuten später gefragt hättest …«
    Die Störungen schwollen an und verschluckten ihre Stimme, und Jack erinnerte sich daran, wie sie in dem Teerestaurant ausgesehen hatte, abgezehrt und schwach, eine alte Frau. Als die Leitung wieder klarer wurde, fragte er: »Hast du Ärger mit Onkel Morgan? Belästigt er dich?«
    »Ich habe Onkel Morgan mit einem Floh im Ohr fortgeschickt«, sagte sie.
    »Er war bei dir? Er ist gekommen? Belästigt er dich immer noch?«
    »Ich habe mir den Kerl vom Hals geschafft, zwei Tage nach deiner Abreise, Baby. Zerbrich dir seinetwegen nicht den Kopf.«
    »Hat er gesagt, wo er hinwollte?« fragte Jack, aber sobald die Worte aus seinem Mund gekommen waren, gab das Telefon ein gequältes elektronisches Heulen von sich, ein Geräusch, das sich in seinen Kopf zu bohren schien. Jack verzog das Gesicht und riss den Hörer vom Ohr. Das grauenhafte Heulen war so laut, dass jeder es gehört hätte, der in den Gang trat. »MOM!« schrie Jack; er wagte es nicht, den Hörer nahe ans Ohr zu halten. Das Heulen verstärkte sich; es klang, als wäre ein Radio zwischen zwei Stationen auf volle Lautstärke aufgedreht worden.
    Dann war die Leitung plötzlich tot. Jack drückte den Hörer ans Ohr und vernahm nichts als das monotone schwarze Schweigen einer toten Leitung. »He«, sagte er und rüttelte an der Gabel. Das monotone Schweigen im Apparat schien auf sein Ohr zu drücken.
    Ebenso unvermittelt und als hätte sein Rütteln an der Gabel es bewirkt, kehrte das Freizeichen zurück – eine Oase der Vernunft, des Regulären. Jack fuhr mit der Hand in die Tasche und suchte nach einer weiteren Münze.
    Er hielt den Hörer ungeschickt in der Linken, während er in der Tasche suchte; er erstarrte, als das Freizeichen plötzlich in den Weltraum entwich.
    Morgan Sloats Stimme sprach so deutlich zu ihm, als stünde der gute alte Onkel Morgan am Nebentelefon. »Schwenk deinen Arsch heimwärts, Jack.« Die Stimme durchschnitt die Luft wie ein Skalpell. »Sieh zu, dass du deinen Arsch heimwärts schwenkst, bevor wir dich heimbringen müssen.«
    »Warte«, sagte Jack, als bäte er um Zeit; in Wirklichkeit war er viel zu entsetzt, um zu wissen, was er sagte.
    »Ich kann nicht länger warten, mein Kleiner. Du bist jetzt ein Mörder. Das stimmt doch, oder? Du bist ein Mörder. Und deshalb können wir dir keine Chance mehr geben. Scher dich zurück in dieses Nest in New Hampshire. Sofort. Sonst triffst du vielleicht in einem Sack dort ein.«
     
    Jack hörte es im Hörer klicken. Er ließ ihn fallen. Der Apparat, an dem Jack gesprochen hatte, geriet ins Wackeln, dann rutschte er von der Wand. Einen Augenblick hing er an einem Gewirr aus Drähten; dann stürzte er krachend zu Boden.
    Die Tür der Herrentoilette hinter Jack flog auf, und eine Stimme rief: »Heiliger Strohsack!«
    Als Jack sich umwandte, sah er einen mageren, kurzhaarigen Jungen von vielleicht zwanzig auf die Telefone starren. Er trug eine weiße Schürze und eine Fliege – ein Angestellter aus einem der Läden.
    »Ich habe es nicht getan«, sagte Jack. »Es ist einfach passiert.«
    »Heiliger Strohsack.« Der kurzhaarige Angestellte starrte Jack einen Sekundenbruchteil lang an, fuhr zusammen, als wollte er davonlaufen, und fuhr sich dann mit den Händen über

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