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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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zusätzliche Jahre ließen sein Haar ergrauen und furchten sein Genick. Als er die letzte Pfostenreihe erreichte, blieb Jack stehen; ihm war, als wäre Speedy Parkers scheinbare Verjüngung ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Tagträume irgendwie sehr nahe waren, dass sie ihn von allen Seiten umgaben.
    Neunzehnhundertsechsundsiebzig? Kalifornien? Jack setzte sich wieder in Bewegung und folgte Speedy, der jetzt auf eine winzige, rotgestrichene Holzbude zuging, die sich an den Maschendrahtzaun am hinteren Ende des Vergnügungsparks lehnte. Er war sicher, dass er Speedy in Kalifornien nie begegnet war … Aber die fast greifbare Nähe seiner Phantasien hatte ihm eine andere Erinnerung an jene Zeit ins Gedächtnis gerufen, die Bilder und Gefühle eines Spätnachmittags in seinem sechsten Lebensjahr, als Jacky hinter der Couch im Büro seines Vaters mit einem schwarzen Blechauto spielte und sein Vater und Onkel Morgan unvermutet auf die Tagträume zu sprechen gekommen waren.
    Sie haben Magie, wie wir Physik haben, richtig? Eine Agrarmonarchie, die mit Magie anstelle von Wissenschaft arbeitet. Aber kannst du dir vorstellen, was für einen Riesenreibach wir machen könnten, wenn wir ihnen elektrischen Strom gäben? Wenn wir die richtigen Leute da drüben mit modernen Waffen ausrüsteten? Hast du eine Idee davon?
    Hör auf damit, Morgan. Ich habe eine Menge Ideen, die dir offenbar noch gar nicht gekommen sind …
    Jack konnte fast die Stimme seines Vaters hören, und das eigentümliche, beunruhigende Reich der Tagträume schien sich in dem verschatteten Ödland unter der Achterbahn zu regen. Er begann wieder hinter Speedy herzutraben, der die Tür des kleinen roten Schuppens geöffnet hatte und sich dagegenlehnte und lächelte, ohne das Gesicht zu verziehen.
    »Dir geht etwas im Kopf herum, Travelling Jack. Etwas schwirrt darin herum wie eine Biene. Komm ins Chefbüro und erzähl mir davon.«
    Wäre sein Lächeln breiter, offensichtlicher gewesen, so hätte Jack vielleicht kehrtgemacht und wäre davongelaufen; das Schreckgepenst des Ausgelachtwerdens war noch immer demütigend nahe. Aber aus Speedys ganzem Wesen schien nur einladende Anteilnahme zu sprechen – eine Botschaft, die von den tiefen Furchen in seinem Gesicht ausging –, und Jack trat an ihm vorbei durch die Tür.
    Speedys »Büro« war ein kleiner Bretterverschlag – innen ebenso rot wie außen – ohne Schreibtisch oder Telefon. Zwei hochkant gestellte Apfelsinenkisten lehnten an einer der Seitenwände und flankierten einen nicht angeschlossenen elektrischen Heizofen, der dem Kühlergrill eines Pontiac aus den fünfziger Jahren ähnelte. In der Mitte des Raums leistete ein alter, rundlehniger Schulstuhl einem dicken, mit verblichenem grauem Stoff bezogenen Sessel Gesellschaft.
    An den Armlehnen des Polstersessels hatten offenbar Generationen von Katzen ihre Krallen gewetzt; schmutzige Strähnen von Polsterwatte lagen auf den Lehnen wie Haare; die Rückenlehne des Stuhls war mit eingeritzten Initialen bedeckt. Möbel von der Müllkippe. In einer der Ecken waren Taschenbücher in zwei ordentlichen, knapp halbmeterhohen Stapeln aufgeschichtet, in einer anderen stand der rechteckige, mit Alligatorimitation überzogene Deckel eines billigen Plattenspielers. Speedy deutete mit einem Nicken auf den Heizofen und sagte: »Du musst im Januar oder Februar herkommen, Junge, dann weißt du, wozu ich den brauche. Kalt ist gar kein Wort dafür.« Aber Jack betrachtete inzwischen die Bilder, die über dem Heizofen und den Apfelsinenkisten an die Wand geheftet waren.
    Bis auf eines waren alle Bilder aus Herrenmagazinen ausgeschnittene Aktphotos. Frauen mit Brüsten so groß wie ihre Köpfe lehnten sich lässig an unbequeme Bäume und spreizten durchtrainierte, muskulöse Beine. Ihre Gesichter kamen Jack faszinierend und raubgierig zugleich vor – als könnten diese Frauen Stücke aus seiner Haut herausbeißen, nachdem sie ihn geküsst hatten. Einige der Frauen waren nicht jünger als seine Mutter; andere schienen kaum älter zu sein als er selbst. Jacks Augen wanderten über all das ausgestellte Fleisch – jung und nicht so jung, rosa oder schokoladenbraun oder honiggelb –, das seiner Berührung entgegenzudrängen schien; dass Speedy Parker neben ihm stand und ihn beobachtete, machte ihn verlegen. Dann sah er die Landschaft mitten zwischen den Aktphotos, und einen Moment lang vergaß er zu atmen.
    Es war gleichfalls ein Photo; und es schien nach ihm zu greifen, als

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