Der Talisman
hörte die geschäftig drängende Stimme von Onkel Morgan, der Jack aufforderte, Königin Lily an den Apparat zu holen.
Die Königin des B-Films. Königin Lily Cavanaugh.
»Ja«, sagte Speedy leise. »Probleme überall, mein Junge. Eine kranke Königin – die vielleicht stirbt. Bald stirbt, mein Junge. Und ein oder zwei Welten, die da draußen warten, nur darauf warten, dass jemand sie retten kann.«
Jack starrte ihn offenen Mundes an; ihm war, als hätte ihm der Hausmeister einen Tritt in den Magen versetzt. Sie retten? Seine Mutter retten? Die Panik begann ihn wieder zu überfluten – wie konnte er sie retten? Und sollte dieses verrückte Gerede bedeuten, dass sie tatsächlich im Sterben lag, da drüben in ihrem Zimmer?
»Du hast eine Aufgabe, Travelling Jack«, erklärte ihm Speedy. »Eine Aufgabe, um die du nicht herumkommst, und das ist die reine Wahrheit. Ich wollte, es wäre anders.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Jack. Sein Atem schien in einer heißen kleinen Nische in seiner Kehle stecken geblieben zu sein. Er schaute in eine andere Ecke des kleinen roten Raumes und sah im Schatten eine mitgenommene Gitarre an der Wand lehnen. Daneben lag eine säuberlich zusammengerollte Matratze. Speedy schlief neben seiner Gitarre.
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Speedy. »Du wirst bald wissen, was ich meine, denn du weißt mehr, als du zu wissen glaubst. Eine ganze Menge mehr.«
»Aber ich …« setzte Jack an, und dann riss er sich zurück. Ihm war gerade etwas eingefallen. Jetzt hatte er sogar noch mehr Angst – ein weiterer Brocken aus der Vergangenheit war auf ihn niedergestürzt und verlangte seine Aufmerksamkeit. Plötzlich war er schweißgebadet, und seine Haut kam ihm kalt vor, als wäre er mit fein zerteiltem Wasser aus einem Schlauch besprüht worden. Diese Erinnerung hatte er gestern Morgen zu unterdrücken versucht, als er vor dem Fahrstuhl stand und sich einredete, dass seine Blase nicht dem Platzen nahe war.
»Sagte ich nicht, es wäre Zeit für eine kleine Erfrischung?« fragte Speedy und bückte sich, um ein loses Fußbodenbrett beiseitezuschieben.
Wieder sah Jack zwei ganz gewöhnlich aussehende Männer, die versuchten, seine Mutter in ein Auto zu schieben. Über dem Dach des Autos schaukelten die gebogenen Wedel eines riesigen Baumes.
Speedy zog behutsam eine Halbliterflasche unter den Fußbodenbrettern hervor. Das Glas war dunkelgrün, die Flüssigkeit in ihr sah schwarz aus. »Das wird dir helfen, mein Junge. Du brauchst nur ein bisschen von dem Geschmack – er bringt dich anderswohin, hilft dir auf den Weg zu der Aufgabe, von der ich gesprochen habe.«
»Ich muss jetzt weg, Speedy«, stieß Jack heraus; er hatte es plötzlich entsetzlich eilig, ins Alhambra zurückzukehren. Der alte Mann unterdrückte sichtbar die Überraschung, die sich auf seinem Gesicht breitmachte, dann schob er die Flasche wieder unter das lose Fußbodenbrett. Jack war schon auf den Füßen. »Ich mache mir Sorgen«, sagte er.
»Wegen deiner Mom?«
Jack nickte und bewegte sich rückwärts auf die offene Tür zu.
»Dann geh und sieh nach, ob alles in Ordnung ist. Du kannst jederzeit wiederkommen, Travelling Jack.«
»Okay«, sagte der Junge, doch bevor er hinauslief, zögerte er noch einen Augenblick. »Ich glaube – ich glaube, ich weiß jetzt, wo wir uns schon einmal begegnet sind.«
»Nein, nein, ich hab nur gesponnen«, sagte Speedy, schüttelte den Kopf und schwenkte abwehrend die Hand. »Du hattest schon recht. Vor letzter Woche sind wir uns nie begegnet. Geh zu deiner Mom und beruhige dich.«
Jack sprintete zur Tür hinaus und lief durch den harten Sonnenschein auf den großen Torbogen zu, der auf die Straße hinausführte. Über sich sah er die Buchstaben DLROWNUF AIDACRA, die sich vor dem Himmel abzeichneten; nachts schrieben farbige Glühlampen den Namen nach beiden Seiten. Unter seinen Turnschuhen wirbelten Staubwölkchen auf. Jack arbeitete gegen seine eigenen Muskeln an, zwang sich, sie schneller und angestrengter zu bewegen, so dass er fast das Gefühl hatte, zu fliegen, als er durch den Bogen schoss.
Neunzehnhundertsechsundsiebzig. Jack war den Rodeo Drive hinaufgeschlendert, an einem Nachmittag im Juni? Juli? … irgendeinem Nachmittag in der Trockenzeit, aber vor jenen Wochen des Jahres, in denen sich jedermann wegen der Buschfeuer in den Bergen Sorgen machte. Jetzt wusste er nicht einmal mehr, wohin er gehen wollte. Zu einem Freund? Jedenfalls hatte er es nicht eilig
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