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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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verschmälerten sich, sein ganzes Gesicht schien sich zusammenzuziehen. In dem Augenblick, in dem Jack begriffen hatte, was geschehen würde, klatschte ihm Singers Hand schon ins Gesicht.
    »Jack?« flüsterte Wolf.
    »Ich bin okay«, sagte er.
    »Wenn du mir etwas tust, tue ich dir doppelt so viel«, sagte Singer zu Jack. »Und wenn du mir vor Reverend Gardener etwas tust, tue ich dir viermal so viel. Ist das klar?«
    »Ja«, sagte Jack. »Ich glaube, ich habe verstanden. Sollten wir nicht irgendwelche Kleidung bekommen?«
    Singer wirbelte herum und setzte sich wieder in Bewegung. Jack blieb eine Sekunde stehen und sah zu, wie sich der schmale, angespannte Rücken des Jungen die Treppe hinaufbewegte. Du auch, dachte er. Du und Osmond. Eines Tages. Dann folgte er ihm, und Wolf trabte hinter ihm drein.
    In einem langen, mit Kartons vollgestapelten Raum wartete Singer ungeduldig an der Tür, während ein großer Junge mit ausdruckslosem Gesicht und dem Gebaren eines Schlafwandlers in den Regalen nach passender Kleidung für sie suchte.
    »Schuhe auch. Entweder du findest passende Schuhe für ihn, oder du schwingst wieder den ganzen Tag die Schaufel«, sagte Singer von der Tür, wobei er ganz betont den Jungen nicht ansah. Verdrossener Abscheu – auch das war wohl eine von Sunlight Gardeners Maximen.
    Endlich fand der Junge in einer Ecke des Raums ein Paar der schweren, kantigen Schnürschuhe in Größe achtundvierzig, und Jack zog sie Wolf an. Dann führte Singer sie eine weitere Treppe hinauf zum Schlaftrakt. Hier hatte man keinerlei Versuch unternommen, die wahre Natur des Sunlight-Heims zu verbergen. Ein schmaler Korridor erstreckte sich über die ganze Länge des Hauses – er mochte an die fünfzehn Meter lang sein. Zu beiden Seiten des Korridors lag eine schmale Tür mit eingesetztem Guckloch neben der anderen. Auf Jack machte dieser so genannte Schlaftrakt den Eindruck eines Gefängnisses.
    Singer führte sie ein Stück den schmalen Korridor entlang und blieb dann vor einer der Türen stehen. »An seinem ersten Tag braucht hier niemand zu arbeiten. Morgen fängt für euch das volle Programm an. Also schert euch hier hinein und lest in euren Bibeln oder sonst etwas. Ich komme dann und lasse euch rechtzeitig zur Beichte heraus. Und zieht die Sunlight-Kleidung an, verstanden?«
    »Heißt das, dass du uns für die nächsten drei Stunden hier einschließen willst?«
    »Soll ich etwa eure Händchen halten?« fuhr Singer auf, und sein Gesicht rötete sich wieder. »Wenn ihr freiwillig hier wärt, könnte ich euch herumlaufen lassen, damit ihr das Haus kennen lernt. Aber da ihr Mündel des Staates seid und von der Polizei eingeliefert wurdet, seid ihr nur eine Nummer besser als verurteilte Kriminelle. Wenn ihr Glück habt, seid ihr in dreißig Tagen vielleicht Freiwillige. Aber fürs erste schert ihr euch in euer Zimmer und fangt an, euch wie Menschen zu benehmen, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurden, anstatt wie Tiere.« Ungeduldig stieß er einen Schlüssel ins Schloss, riss die Tür auf und stellte sich daneben. »Rein mit euch. Ich hab noch mehr zu tun.«
    »Was passiert mit unseren Sachen?«
    Singer seufzte theatralisch. »Denkst du Blödmann etwa, wir wären daran interessiert, etwas von eurem Kram zu stehlen?«
    Jack zwang sich, nichts zu erwidern.
    Singer seufzte abermals. »Okay. Wir bewahren alles für euch auf, in Mappen mit euren Namen darauf. Unten in Reverend Gardeners Büro. Dort wird auch euer Geld zurückgelegt bis zu dem Tag, an dem ihr entlassen werdet. Und nun schert euch hinein, bevor ich euch wegen Ungehorsam melde.«
    Wolf und Jack betraten die kleine Kammer. Als Singer die Tür zuschlug, ging automatisch die Deckenbeleuchtung an und zeigte einen fensterlosen Raum mit einem metallenen Etagenbett, einem kleinen Ausguss in der Ecke und einem Metallstuhl. Sonst nichts. Auf den weißen Gipskartonwänden ließen gelbe Klebstoffreste erkennen, wo frühere Bewohner des Raums Bilder befestigt hatten. Der Schüssel drehte sich im Schloss.
    Als Jack und Wolf sich umdrehten, sahen sie Singers gehetztes Gesicht in dem kleinen rechteckigen Türfenster. »Seid schön artig«, sagte er grinsend und verschwand.
    »Nein, Jacky«, sagte Wolf. Die Decke war kaum zwei Zentimeter über seinem Kopf. »Wolf kann hier nicht bleiben.«
    »Setz dich lieber hin«, sagte Jack. »Willst du das obere oder das untere Bett?«
    »Wie?«
    »Nimm das untere und setz dich. Wir sitzen in der Patsche.«
    »Wolf weiß das,

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