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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Jacky. Wolf weiß das. Das ist ein ganz schlimmer Ort. Kann hier nicht bleiben.«
    »Warum ist es ein schlimmer Ort? Ich meine, woher weißt du das?«
    Wolf setzte sich schwer auf das untere Bett, ließ seine neuen Kleider auf den Fußboden fallen und griff nach dem Buch und den beiden Broschüren, die dort lagen. Das Buch war die Bibel, in einen Kunststoff gebunden, der aussah wie blaue Haut. Jack warf einen Blick auf die Broschüren und las ihre Titel: Der sichere Weg zum ewigen Heil und Gott liebt dich! »Wolf weiß es. Und du auch, Jacky.« Wolf blickte zu ihm auf, fast finster. Dann betrachtete er wieder die Bücher in seinen Händen, begann darin zu blättern, ließ die Seiten durch die Finger gleiten.
    Wahrscheinlich waren es die ersten Bücher, die Wolf je zu Gesicht bekommen hatte.
    »Der weiße Mann«, sagte Wolf so leise, dass Jack es kaum hörte.
    »Der weiße Mann?«
    Wolf hielt eine der Broschüren hoch, mit der Rückseite nach oben. Der hintere Einbanddeckel trug ein ganzseitiges Schwarzweiß-Photo von Sunlight Gardener; sein schönes Haar flatterte im Wind, die Arme waren ausgestreckt – ein Mann im ewigen Heil, von Gott geliebt.
    »Er«, sagte Wolf. »Er tötet, Jacky. Mit Peitschen. Das ist einer von seinen Orten. Kein Wolf sollte sich je an einem von seinen Orten aufhalten. Und auch kein Jack Sawyer. Niemals. Wir müssen von hier fort, Jacky.«
    »Wir kommen wieder heraus«, sagte Jack. »Das verspreche ich dir. Nicht heute oder morgen – wir müssen uns erst etwas ausdenken. Aber bald.«
    Wolfs Füße ragten weit über das Ende seines Bettes heraus. »Bald.«
     
    3
     
    Bald, hatte er versprochen, und Wolf brauchte das Versprechen. Wolf war verängstigt. Jack wusste nicht, ob Wolf Osmond in der Region je begegnet war; aber er hatte bestimmt von ihm gehört. In der Region, zumindest bei den Angehörigen der Wolf-Familie, schien Osmond in einem noch schlechteren Ruf zu stehen als Morgan. Aber obwohl Jack wie auch Wolf in Sunlight Gardener Osmond erkannt hatten, hatte Gardener sie nicht erkannt – was zwei Möglichkeiten offenließ. Entweder machte sich Gardener nur einen Spaß mit ihnen, indem er Unwissenheit vortäuschte; oder er war ein Twinner wie Jacks Mutter, aufs engste mit jemandem in der Region verbunden, sich der Verbindung jedoch nur auf der tiefsten Ebene bewusst.
    Und wenn das der Fall war, wie Jack glaubte, dann konnten er und Wolf auf den geeigneten Augenblick zur Flucht warten. In der Zwischenzeit mussten sie beobachten und lernen.
    Jack zog die kratzige neue Kleidung an. Jeder der klobigen schwarzen Schuhe schien mehrere Kilo zu wiegen und an jeden Fuß zu passen. Es kostete ihn einige Mühe, bis er Wolf dazu überredet hatte, die Uniform des Sunlight-Heims anzuziehen. Dann legten sie sich beide hin. Jack hörte, wie Wolf zu schnarchen begann, und nach einer Weile schlief er gleichfalls ein. In seinen Träumen war seine Mutter irgendwo im Dunkeln und rief nach ihm, rief, er solle ihr helfen, helfen.

 
Zweiundzwanzigstes Kapitel
     
    Die Predigt
     
    1
     
    Um fünf Uhr an diesem Nachmittag ging eine elektrische Klingel los, ein anhaltendes, durchdringendes Geräusch. Wolf fuhr von seinem Bett hoch und stieß mit dem Kopf so heftig gegen den Metallrahmen der oberen Koje, dass Jack gleichfalls hochfuhr.
    Nach etwa fünfzehn Sekunden hörte die Klingel auf zu lärmen. Wolf machte weiter.
    »Schlimmer Ort, Jack!« schrie er. »Schlimmer Ort, gleich hier und jetzt. Muss hier raus! Muss hier raus – GLEICH HIER UND JETZT!«
    Jemand hämmerte gegen die Wand.
    »Bring den Schwachkopf zur Ruhe!«
    Von der anderen Seite kam ein schrilles, wieherndes Gelächter. »Jetzt kommt ein bisschen Sonnenlicht in eure Seelen, Jungs! Und so, wie der große Kerl sich anhört, ist das auch dringend nötig!« Und wieder das kichernde, wiehernde Gelächter, das einem entsetzten Aufschrei nur allzu ähnlich war.
    »Schlimm, Jack! Wolf! Jason! Schlimm! Schlimm, schlimm …«
    Jack kletterte von der oberen Koje herunter; er musste sich zu jeder Bewegung zwingen. Er bekam die Realität noch nicht in den Griff – er war weder wach, noch schlief er. Als er sich durch die schäbige Kammer auf Wolf zubewegte, war ihm, als schöbe er sich durch dicken Sirup anstatt durch Luft.
    Er war jetzt so müde – entsetzlich müde.
    »Wolf«, sagte er. »Wolf, hör auf damit.«
    »Kann nicht, Jacky!« schluchzte Wolf. Er hatte die Arme noch immer um den Kopf geschlungen, als müsste er verhindern, dass er

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