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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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so etwas in der Kapelle eines religiösen Heims für gestrauchelte Jungen vorzufinden. Beiderseits des Pults stand je eine Videokamera – eine, die Sunlight Gardeners rechtes Profil einfangen sollte, und eine zweite für sein linkes Profil. An diesem Abend war keine von ihnen eingeschaltet. An den Wänden hingen schwere purpurne Vorhänge. An der rechten Wand wurden sie durch nichts unterbrochen, aber in die linke Wand war ein Rechteck aus Glas eingelassen. Jack entdeckte Casey, der vor einem professionell aussehenden Tonsteuergerät saß, ein Zweispulen-Bandgerät dicht neben sich. Während Jack ihn beobachtete, nahm Casey ein Paar Kopfhörer vom Steuergerät und stülpte sie sich über die Ohren.
    Jack blickte nach oben und sah Holzbalken, die sich zu sechs bescheidenen Bögen vereinigten. Der Raum zwischen ihnen war mit weißen Lochplatten ausgefüllt – Schalldämmung. Der Raum sah aus wie eine Kapelle, war aber in Wirklichkeit eine überaus leistungsfähige Kombination von Fernseh- und Rundfunkstudio. Jack musste plötzlich an Jimmy Swaggart, Rex Humbard, Jack Van Impe denken.
    Leute, legt nur eure Hände auf den Fernseher, und ihr werdet GEHEILT werden!!!
    Er hatte plötzlich das Gefühl, in lautes Lachen ausbrechen zu müssen.
    An der linken Seite des Podiums öffnete sich eine kleine Tür, und Sunlight Gardener trat heraus. Er war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, und Jack sah, dass sich auf den Gesichtern vieler Jungen Empfindungen von Verzückung bis hin zu regelrechter Vergötterung spiegelten. Jack hatte abermals Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Die Vision in Weiß, die sich dem Lesepult näherte, erinnerte ihn an eine Reihe von Werbespots, die er vor langer Zeit im Fernsehen gesehen hatte.
    Sunlight Gardener sah genau so aus wie der Schauspieler in diesen Spots.
    Wolf wandte sich zu ihm um und flüsterte heiser: »Was ist los, Jack? Du riechst, als wäre etwas furchtbar komisch.«
    Jack hielt die Hand vor den Mund und schnaubte so heftig, dass farbloser Rotz auf seine Finger spritzte.
    Mit einem vor rosiger Gesundheit leuchtenden Gesicht wendete Sunlight Gardener die Seiten der auf dem Pult liegenden großen Bibel um, scheinbar tief in Meditation versunken. Jack sah die missmutige, verbrannter Erde gleichende Landschaft von Heck Basts Gesicht, die verkniffene, argwöhnische Miene von Sonny Singer. Der Anblick ernüchterte ihn sehr schnell.
    In der Glaskabine richtete Casey sich auf und beobachtete Gardener genau. Und als Gardener sein dekoratives Gesicht von der Bibel hob und seine verschatteten, träumerischen und restlos irrsinnigen Augen auf seine Gemeinde richtete, betätigte Casey einen Schalter. Die Spulen des großen Bandgeräts begannen sich zu drehen.
     
    6
     
    »Entrüste dich nicht über die Bösen«,
     
    sagte Sunlight Gardener. Seine Stimme war leise, melodisch, nachdenklich.
     
    »Sei nicht neidisch auf die Übeltäter.
    Denn wie das Gras werden sie bald verdorren,
    und wie das grüne Kraut werden sie verwelken.
    Hoffe auf den Herrn und tue Gutes,
    bleibe im Lande und nähre dich redlich.
    Habe deine Lust am Herrn;
    Er wird dir geben, was dein Herz wünscht.
    Befiel dem Herrn deine Wege,
    Er wird’s wohl machen …
    Steh ab vom Zorn und lass den Grimm,
    entrüste dich nicht, damit du nicht Unrecht tust.
    Denn die Bösen werden ausgerottet;
    die aber des Herrn harren, werden das Land erben.«
     
    Sunlight Gardener schloss das Buch.
    »Möge der Herr«, sagte er, »dieser Verlesung seines Heiligen Wortes seinen Segen geben.«
    Dann blickte er lange, lange Zeit auf seine Hände herab. In Caseys Glaskabine drehten sich die Spulen des Bandgeräts. Dann blickte er wieder auf, und in Gedanken hörte Jack den Mann plötzlich kreischen: Doch nicht etwa das Kingsland? Du willst doch nicht etwa sagen, dass du eine ganze Wagenladung Kingsland-Bier umgekippt hast, du idiotischer Ziegenschwanz? Das willst du mir doch wohl nicht sagen, wie?
    Sunlight Gardener musterte seine junge Gemeinde ernst und eindringlich. Die Gesichter der Jungen erwiderten seinen Blick – runde Gesichter, schmale Gesichter, Gesichter mit blauen Flecken, Gesichter voller Aknepickel, Gesichter, die verschlagen waren, und offene, junge und liebenswerte Gesichter.
    »Was bedeutet das, Jungen? Versteht ihr den Siebenunddreißigsten Psalm? Versteht ihr diesen wundervollen Text?«
    Nein, sagten ihre Gesichter – verschlagen und offen, klar und eifrig, narbig und pickelig. Nein, nicht richtig, sind nur bis zur fünften

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