Der Talisman
Gasmaske brauchen würde. Er nahm es an, aber bekommen würde er wohl keine. Mit einigem Unbehagen beobachtete er, wie Wolf eine vierte Portion Bohnen auf seinen Teller häufte.
Nach dem Essen erhoben sich alle Jungen und räumten die Tische ab. Als Jack ihre Teller, das, was Wolf von einem Laib Brot übriggelassen hatte, und zwei Milchkrüge in die Küche trug, hielt er seine Augen weit offen. Die Aufschrift auf den Milchpackungen hatte ihn auf eine Idee gebracht.
Dieser Ort war weder ein Gefängnis noch ein Arbeitshaus. Wahrscheinlich galt er als Internat oder etwas dergleichen; das Gesetz schrieb bestimmt eine Überwachung durch irgendwelche staatlichen Inspektoren vor, und die Küche würde der Ort sein, auf die das Auge des Staates Indiana am häufigsten fiel. Gitter vor den Fenstern in den oberen Stockwerken, okay. Aber Gitter vor den Küchenfenstern? Jack hielt es für unwahrscheinlich. Das würde zu viele Fragen aufwerfen.
Die Küche konnte ein guter Ausgangspunkt für einen Fluchtversuch sein, und Jack betrachtete sie genau.
Sie hatte sehr viel Ähnlichkeit mit der Küche hinter der Cafeteria seiner Schule in Kalifornien. Fußboden und Wände waren gekachelt, die großen Ausgüsse und die Tresen bestanden aus Edelstahl. Die Schränke hatten fast die Größe von Gemüsecontainern. An einer Wand stand ein alter Geschirrspüler mit Förderband. Drei Jungen bedienten dieses Relikt aus grauer Vorzeit, beaufsichtigt von einem Mann in weißem Kochanzug. Der Mann war schmächtig, bleich und hatte ein kleines Rattengesicht. Eine filterlose Zigarette hing an seiner Unterlippe, und das kennzeichnete ihn in Jacks Überlegungen als möglichen Verbündeten. Er bezweifelte, dass Sunlight Gardener einem seiner Leute das Zigarettenrauchen gestattete.
An der Wand hing unter Glas und Rahmen die Bestätigung, dass diese Gemeinschaftsküche den vom Staat Indiana und der Regierung der Vereinigten Staaten gestellten Anforderungen entsprach.
Und vor den Milchglasscheiben waren tatsächlich keine Gitter.
Der rattengesichtige Mann warf einen Blick auf Jack, klaubte die Zigarette von seiner Unterlippe und warf sie in einen der Ausgüsse.
»Frische Fische, du und dein Kumpel, wie?« fragte er. »Nun, ihr werdet bald genug alte Fische sein. Die Fische werden schnell alt hier im Sunlight-Heim, stimmt’s, Sonny?«
Er grinste Sonny Singer herausfordernd an. Es war ganz offensichtlich, dass Singer nicht wusste, wie er auf ein solches Grinsen reagieren sollte; er wirkte verwirrt und unsicher, ein Junge wie andere auch.
»Sie wissen doch, dass Sie sich nicht mit den Jungen unterhalten sollen, Rudolph«, sagte er.
»Das kannst du dir in den Arsch stecken, wenn du es nicht über die Straße rollen oder in die Luft schleudern kannst, Freundchen«, sagte Rudolph und ließ den Blick gemächlich über Singer wandern. »Und das weißt du sehr gut, oder?«
Singer sah ihn an, wobei seine Lippen zuerst zitterten, sich dann verzerrten und schließlich zusammenpressten.
Dann fuhr er plötzlich herum. »Abendandacht!« brüllte er wütend. »Abendandacht, macht zu, ein bisschen dalli, räumt die Tische ab und schert euch in die Diele, wir sind schon spät dran! Abendandacht!«
5
Die Jungen trabten eine schmale, von nackten Glühbirnen in Drahtgeflecht beleuchtete Treppe hinunter. Der Putz an den Wänden war feucht, und Wolfs Art, die Augen zu rollen, gefiel Jack ganz und gar nicht.
Danach war die Kapelle im Keller eine Überraschung. Der größte Teil des – sehr geräumigen – Untergeschosses war in eine fast schmucklose, moderne Kapelle umgewandelt worden. Die Luft hier unten war gut – weder zu warm noch zu kalt. Und frisch. Jack konnte das Flüstern einer nicht weit entfernten Klimaanlage hören. Der Raum enthielt fünf Reihen Bänke, durch einen Mittelgang unterteilt, der zu einem Podest mit einem Lesepult und einem schlichten Holzkreuz vor einem purpurnen Samtvorhang führte.
Irgendwo spielte eine Orgel.
Die Jungen ließen sich schweigend auf den Bänken nieder. Das Mikrophon auf dem Pult war mit einem großen, professionell wirkenden Dämpfer ausgestattet. Jack war mit seiner Mutter in vielen Aufnahmestudios gewesen, hatte oft geduldig dagesessen, ein Buch gelesen oder seine Schularbeiten gemacht, während sie einen Fernsehfilm nachsynchronisierte oder unklare Dialoge überarbeitete, und er wusste, diese Art Dämpfer sollte verhindern, dass der Sprecher das Mikrophon »knallen« ließ. Es kam ihm sehr merkwürdig vor,
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