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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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erkannte ich doch ihre Stimmen. Wenn man einen Jungen gefüttert hat, wenn man liebevoll seinen Kopf an die Brust gedrückt hat, weil er nachts nach seiner Mutter weinte, dann erkennt man auch seine Stimme.
    Diese Jungen sind jetzt nicht mehr hier. Möge Gott ihnen vergeben – ich hoffe, er tut es, oh ja – aber Sunlight Gardener ist nur ein Mensch.«
    Er ließ den Kopf sinken, um zu beweisen, was für ein beschämendes Eingeständnis das war. Doch als er ihn wieder hob, brannten seine Augen noch immer und funkelten vor Zorn.
    »Sunlight Gardener kann ihnen nicht vergeben. Deshalb jagte Sunlight Gardener sie wieder hinaus auf die Straße. Sie wurden hinausgejagt ins Land, aber sie werden nicht genährt; sie sind in einer Region, in der sogar die Bäume sie auffressen können wie wilde Tiere, die in der Nacht herumstreifen.«
    Bestürztes Schweigen im Raum. Sogar Casey hinter der Glasscheibe wirkte bleich und betroffen.
    »In der Bibel heißt es, dass Gott Kain aus Eden hinausschickte ins Land Nod. Auf die Straße hinausgejagt zu werden, läuft auf dasselbe hinaus. Hier habt ihr einen sicheren Hafen.«
    Er ließ den Blick über sie wandern.
    »Aber wenn ihr schwach werdet – wenn ihr lügt –, dann wehe euch! Die Hölle wartet ebenso auf den Rückfälligen wie auf den Jungen oder den Mann, der sich absichtlich hineinstürzt.
    Denkt daran, Jungen.
    Denkt daran.
    Lasst uns beten.«

 
Dreiundzwanzigstes Kapitel
     
    Ferd Janklow
     
    1
     
    Jack brauchte weniger als eine Woche, um herauszufinden, dass die einzige Möglichkeit, aus dem Sunlight-Heim zu entkommen, ein Abstecher in die Region war. Er war durchaus willens, es zu versuchen. Aber er wusste, dass er fast alles tun und jedes Risiko eingehen würde, um nicht direkt aus dem Sunlight-Heim flippen zu müssen.
    Dafür gab es keinen konkreten Grund, nur eine Stimme in seinem Unterbewusstsein, die ihm zuflüsterte, dass das, was hier schlimm war, drüben noch schlimmer sein würde. Dies war vielleicht ein böser Ort in allen Welten – ungefähr wie eine schlechte Stelle in einem Apfel, die sich bis ins Kerngehäuse erstreckt. Das Sunlight-Heim war schon schlimm genug; ihn verlangte nicht danach zu wissen, wie sein Gegenstück in der Region aussah.
    Aber vielleicht gab es einen Weg.
    Wolf und Jack und die anderen Jungen, die nicht das Glück hatten, im Außendienst eingesetzt zu sein – und das waren die meisten –, verbrachten ihre Tage auf dem, was die Alteingesessenen das Hintere Feld nannten. Es lag ungefähr drei Kilometer vom Heim entfernt an der Straße, am Rande von Gardeners Besitz, und hier verbrachten die Jungen ihre Tage mit dem Auflesen von Steinen. Um diese Jahreszeit gab es auf den Feldern sonst nichts mehr zu tun. Die letzte Ernte war Mitte Oktober eingebracht worden, aber, wie Sunlight Gardener täglich bei der Morgenandacht erklärte, Steine gab es immer.
    Jeden Morgen, wenn er auf einem der beiden ramponierten Farmlaster des Heims saß, ließ Jack den Blick über das Hintere Feld wandern. Wolf saß neben ihm und hielt den Kopf gesenkt wie ein Junge mit einem Kater. Der Herbst im Mittleren Westen war regnerisch gewesen, und das Hintere Feld war eine klebrige Schlammwüste. Zwei Tage zuvor hatte einer der Jungen leise geflucht und es einen »verdammten Stiefelreißer« genannt.
    Angenommen, wir hauen einfach ab, dachte Jack zum vierzigsten Mal. Angenommen, ich rufe Wolf zu: »Auf geht’s !«, und dann rennen wir los? Wohin? Ans nördliche Ende, wo die Bäume sind und die Steinmauer. Dort hört sein Land auf.
    Es könnte ein Zaun da sein.
    Wir klettern hinüber. Notfalls kann Wolf mich hinüberwerfen.
    Es könnte Stacheldraht da sein.
    Wir kriechen drunter durch. Oder …
    Oder Wolf könnte ihn mit den bloßen Händen zerreißen. Der Gedanke gefiel Jack nicht, aber er wusste, dass Wolf die Kraft dazu besaß – und wenn er ihn darum bat, würde Wolf es tun. Es würde ihm die Hände zerfetzen, aber hier im Heim wurde er auf noch schlimmere Art in Stücke gerissen.
    Und was dann?
    Flippen natürlich. Das war die einzige Möglichkeit. Wenn sie nur von dem Land herunterkamen, das zum Sunlight-Heim gehörte, flüsterte diese innere Stimme, dann hatten sie eine Chance, sich ihren Weg freizukämpfen.
    Und Singer und Bast würden sie nicht mit einem der Lastwagen verfolgen können; der erste Lastwagen, der auf das Hintere Feld fuhr, bevor die Dezemberfröste den Boden hatten gefrieren lassen, würde bis zu den Trittbrettern im Schlamm versinken.
    Es

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