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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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den Hof. Er ging an der Garage entlang und stieg das Bankett zur Straße empor. Von hier aus hatte er freien Blick auf die vor der Front des Sunlight-Heims geparkten Streifenwagen. Während Jack dastand und sie beobachtete, jagte eine Ambulanz mit Blaulicht und heulenden Sirenen die Straße entlang.
    »Hab dich geliebt, Wolf«, murmelte Jack und wischte sich mit dem Ärmel über die nassen Augen. Dann trabte er auf der Straße in die Dunkelheit hinein; er zweifelte nicht daran, dass man ihn aufgreifen würde, bevor er sich eine Meile westlich des Sunlight-Heims befand. Drei Stunden später war er immer noch unterwegs; offenbar hatten die Polizisten da hinten mehr als genug zu tun.
     
    2
     
    Vor ihm lag ein Highway, hinter der nächsten oder der übernächsten Anhöhe. Jack sah das orangefarbene Glühen der Natriumdampflampen am Horizont und hörte das Dröhnen der großen Ferntransporter.
    Er machte in einem mit Müll übersäten Graben halt und wusch sich Gesicht und Hände in dem Wasser, das aus einem Rohr tröpfelte. Das Wasser war eisig kalt, aber es betäubte für eine Weile das Pochen in seinen Händen. Die alte Wachsamkeit kehrte fast unaufgefordert zurück.
    Einen Augenblick blieb Jack stehen, wo er war, unter dem dunklen Nachthimmel von Indiana, und lauschte dem Dröhnen der großen Laster.
    Der Wind, der in den Bäumen rauschte, fuhr durch sein Haar. Wolfs Tod bedrückte ihn, doch selbst das änderte nichts an dem guten, an dem sehr guten Gefühl, wieder frei zu sein.
    Eine Stunde später bremste ein Lastwagenfahrer seinen Wagen neben dem erschöpften, blassen Jungen, der mit hochgerecktem Daumen an der Ausfahrt stand. Jack stieg ein.
    »Wo willst du hin, Junge?« fragte der Fahrer.
    Jack war zu erschöpft und fühlte sich zu elend, um seine Geschichte aufzutischen – er hatte sie ohnehin fast vergessen. Wahrscheinlich würde sie ihm später wieder einfallen.
    »Nach Westen«, sagte er. »So weit Sie fahren.«
    »Das wäre bis in die Mitte des Staates.«
    »Gut«, sagte Jack und schlief ein.
    Der große Diamond Reo rollte durch die kalte Nacht von Indiana; aus dem Rekorder kam die Stimme von Charlie Daniels, während er nach Westen rollte, dem Licht der eigenen Scheinwerfer nach, in Richtung Illinois.

 
Achtundzwanzigstes Kapitel
     
    Jacks Traum
     
    1
     
    Natürlich nahm er Wolf mit sich. Wolf war nach Hause zurückgekehrt, aber ein großer, treuer Schatten fuhr auf den Straßen von Illinois mit Jack in all den Lastern und Volkswagentransportern und staubigen Wagen. Das lächelnde Gespenst schnitt Jack ins Herz. Manchmal konnte er Wolfs massige, behaarte Gestalt nebenherlaufen, über die abgeernteten Felder rennen sehen – konnte sie fast sehen. Wolf war frei und strahlte ihn aus kürbisfarbenen Augen an. Wenn er dann den Blick abwendete, vermisste Jack Wolfs Hand, die sich um seine schloss. Jetzt, da er seinen Freund so sehr vermisste, schämte er sich seiner Ungeduld mit Wolf, und die Scham trieb ihm die Röte ins Gesicht. Öfter, als er zählen konnte, hatte er daran gedacht, Wolf im Stich zu lassen. Es war beschämend, beschämend. Wolf war – es dauerte eine Weile, bis Jack ganz begriffen hatte, dass edelmütig das richtige Wort war. Und dieses edelmütige Geschöpf, in dieser Welt so fehl am Platze, war für ihn gestorben.
    Ich habe meine Herde beschützt. Jack Sawyer war nicht mehr die Herde. Ich habe meine Herde beschützt. Es gab Zeiten, in denen die Lastwagenfahrer oder Versicherungsvertreter, die diesen seltsamen Jungen am Straßenrand aufgelesen hatten – ihn aufgelesen hatten, obwohl er heruntergekommen und schmutzig aussah, obwohl sie möglicherweise nie zuvor einen Anhalter mitgenommen hatten –, einen Blick auf ihn warfen und sahen, dass er gegen Tränen ankämpfte.
    Jack betrauerte Wolf, während er Illinois durchquerte. Irgendwie hatte er gewusst, dass er, einmal in diesem Staat, mühelos vorankommen würde, und tatsächlich brauchte er oft nicht mehr zu tun, als seinen Daumen hochzurecken und dem herannahenden Fahrer in die Augen zu sehen – und schon durfte er einsteigen. Die meisten Fahrer verlangten nicht einmal die Geschichte. Er brauchte nichts als eine kurze Erklärung dafür, warum er allein reiste. »Ich will einen Freund in Springfield besuchen.« – »Ich muss einen Wagen abholen und nach Hause fahren.« »Gut, gut«, sagten die Fahrer – hatten sie überhaupt zugehört? Jack wusste es nicht. In Gedanken durchblätterte er einen meilenhohen Stapel von Bildern –

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