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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Wolf, der in der Region in einen Fluss sprang, um seine Tiere zu retten, Wolf, der die Nase in einen wohlriechenden Karton steckte, in dem ein Hamburger gewesen war, Wolf, der Essen für ihn in den Schuppen schob, in das Aufnahmestudio sprang, von den Kugeln getroffen wurde, verschwand … Jack wollte das alles nicht immer und immer wieder sehen, aber er musste es, und die Bilder trieben ihm brennende Tränen in die Augen.
    Nicht weit hinter Danville warf ihm ein untersetzter Mann in den Fünfzigern mit eisengrauem Haar und dem belustigten, aber strengen Ausdruck eines Lehrers, der seit zwei Jahrzehnten die fünfte Klasse unterrichtet, vom Lenkrad aus einen unauffälligen Blick nach dem anderen zu und fragte schließlich: »Ist dir nicht kalt, Junge? Du solltest mehr anhaben als diese schäbige Jacke.«
    »Ein bisschen vielleicht«, sagte Jack. Sunlight Gardener war der Ansicht gewesen, dass die Köperjacken für die Feldarbeit auch im Winter warm genug waren, aber jetzt leckte und stach die Kälte durch all ihre Fasern.
    »Auf dem Rücksitz liegt ein Mantel«, sagte der Mann. »Nimm ihn. Nein, keine Ausflüchte. Der Mantel gehört jetzt dir. Glaub mir, ich erfriere schon nicht.«
    »Aber …«
    »Du hast gar keine andere Wahl. Der Mantel gehört jetzt dir. Probier ihn an.«
    Jack langte über die Rücklehne des Sitzes und zog ein schweres Bündel Stoff auf seinen Schoß. Anfangs war es formlos, unidentifizierbar. Dann kam eine große aufgesetzte Tasche zum Vorschein, ein Knebelknopf. Es war ein Lodenmantel, der nach Pfeifentabak roch.
    »Mein alter«, sagte der Mann. »Er liegt nur im Wagen, weil ich sonst nicht weiß, wohin damit. Voriges Jahr haben mir die Kinder dieses Daunending geschenkt. Also bekommst du ihn.«
    Jack mühte sich in den fülligen Mantel, zog ihn über die Köperjacke. »Phantastisch«, sagte er und kam sich vor, als umarmte ihn ein Bär mit einer Vorliebe für guten Pfeifentabak.
    »Gut«, sagte der Mann. »Und wenn du jemals wieder draußen auf einer kalten, windigen Straße stehst, kannst du dich bei Myles P. Kiger aus Ogden, Illinois, dafür bedanken, dass er deine Haut gerettet hat. Deine …« Es sah aus, als wollte Myles P. Kiger noch mehr sagen; das Wort hing eine Sekunde in der Luft, der Mann lächelte noch immer; dann verzerrte sich das Lächeln zu einem Ausdruck einfältiger Verlegenheit, und er blickte wieder nach vorn. Im grauen Morgenlicht sah Jack, wie auf den Wangen des Mannes ein Muster aus roten Flecken erschien.
    Deine (irgendwie beschaffene) Haut?
    Oh nein.
    Deine schöne Haut. Deine hinreißende, küssenswerte, verehrungswürdige … Jack schob die Hände tief in die Taschen des Lodenmantels, zog ihn fest um sich. Myles P. Kiger aus Ogden, Illinois, starrte geradeaus.
    »Ähem«, sagte Kiger, genau wie ein Mann in einem Comic-Heft.
    »Danke für den Mantel«, sagte Jack. »Wirklich. Ich werde Ihnen dankbar sein, wo immer ich ihn trage.«
    »Schon gut«, sagte Kiger, »vergaß es.« Aber eine Sekunde lang hatte sein Gesicht eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem des armen Donny Keegan im Sunlight-Heim. »Da vorn ist ein Rasthaus«, sagte Kiger. Seine Stimme klang abgehackt, abrupt, nur scheinbar gelassen. »Dort können wir einen Happen essen, wenn du möchtest.«
    »Ich habe kein Geld mehr«, sagte Jack, eine Behauptung, die genau um zwei Dollar und achtunddreißig Cent an der Wahrheit vorbeiging.
    »Mach dir deshalb keine Gedanken.« Kiger war bereits auf die Abbiegerspur eingeschwenkt.
    Sie fuhren auf einen windigen, fast leeren Parkplatz vor einem grauen Gebäude, das aussah wie ein Eisenbahnwaggon. EMPIRE DINER besagte eine Leuchtschrift über dem Haupteingang. Kiger brachte den Wagen vor einem der langen Fenster des Rasthauses zum Stehen, und sie stiegen aus. Jetzt spürte Jack, dass der Mantel ihn warm halten würde. Ihm war, als würden seine Brust und seine Arme von einer wollenen Rüstung geschützt. Jack ging auf die Tür unter der Leuchtschrift zu, drehte sich aber um, als er feststellte, dass Kiger noch immer neben seinem Wagen stand. Der grauhaarige Mann, der kaum größer war als Jack, sah ihn über das Wagendach hinweg an.
    »Hör mal«, sagte Kiger.
    »Ich gebe Ihnen den Mantel gern zurück«, sagte Jack.
    »Nein, der gehört jetzt dir. Mir kam nur gerade der Gedanke, dass ich doch keinen rechten Hunger habe, und wenn ich gleich weiterfahre, komme ich ein bisschen früher nach Hause.«
    »Klar«, sagte Jack.
    »Du findest hier sicher jemanden, der dich

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