Der Talisman
du dir das alles ausgedacht hast. Ich glaube nicht einmal, dass du dir irgendetwas davon ausgedacht hast.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll, aber ich bin sicher, dass du mir nichts vorlügst.« Er ließ seine Hand sinken. »Ich glaube dir, dass du im Sunlight-Heim warst. Und ich glaube dir auch, dass du einen Freund namens Wolf hattest, der dort starb. Aber so leid es mir tut – ich kann die Region nicht ernst nehmen, und ich kann nicht glauben, dass dein Freund ein Werwolf war.«
»Du hältst mich also für übergeschnappt«, sagte Jack.
»Ich glaube, dass du Probleme hast. Aber ich werde meinen Vater nicht anrufen, und ich setze dich auch nicht gleich wieder vor die Tür. Heute Nacht wirst du erstmal in diesem Bett hier schlafen. Wenn Mr. Haywood seinen Kontrollgang macht und wir ihn kommen hören, versteckst du dich unter dem Bett.«
Richard hatte einen leicht befehlenden Ton angeschlagen; er stemmte die Hände auf die Hüften und sah sich kritisch im Zimmer um. »Du brauchst unbedingt ein bisschen Ruhe. Ich bin sicher, das ist eins deiner Probleme. Du hast dich halb zu Tode arbeiten müssen in diesem furchtbaren Haus und so viel durchgemacht, dass du nicht mehr geradeaus denken kannst, und jetzt brauchst du Ruhe.«
»Ja, die brauche ich«, gab Jack zu.
Richard ließ seine Augen aufwärts rollen. »Ich muss gleich zum Hallen-Basketball, aber du kannst dich hier verstecken. Später bringe ich dir aus dem Speisesaal noch etwas zu essen mit. Aber das Wichtigste ist, dass du Ruhe brauchst, und dass du nach Hause zurückmusst.«
Jack sagte: »New Hampshire ist nicht zu Hause.«
Dreißigstes Kapitel
Thayer wird unheimlich
1
Durch das Fenster konnte Jack Jungen in Mänteln sehen, die sich unter der Kälte duckten und zwischen der Bibliothek und den anderen Schulgebäuden hin- und herliefen. Etheridge, der Senior, der Jack am Morgen angesprochen hatte, eilte mit flatterndem Schal vorbei.
Richard holte ein Tweedjackett aus dem schmalen Kleiderschrank neben seinem Bett. »Ich finde nach wie vor, dass du nach New Hampshire zurückkehren solltest. Ich muss jetzt zum Basketball – wenn ich nicht erscheine, brummt mir Trainer Fräser zehn Strafrunden auf, sobald er zurück ist. Heute ist irgendein anderer Trainer da, und Fräser hat gesagt, er dreht uns durch die Mühle, wenn wir schwänzen. Brauchst du etwas Sauberes zum Anziehen? Ich habe zumindest ein Hemd, das dir passen dürfte – mein Vater hat es mir aus New York geschickt, und Brooks Brothers haben sich in der Größe geirrt.«
»Lass sehen«, sagte Jack. Seine Kleider waren eindeutig eine Schande, so steif vor Schmutz, dass Jack jedes Mal, wenn es ihm auffiel, an Pigpen denken musste, eine Figur aus den »Peanuts«, umgeben von Schmuddeligkeit und Missbilligung. Richard gab ihm ein durchgeknöpftes weißes Hemd, das noch in der Plastikhülle steckte. »Großartig, danke«, sagte Jack. Er zog es aus der Hülle und begann, die Stecknadeln zu entfernen. Es würde beinahe passen.
»Da ist auch noch ein Jackett, das du anprobieren könntest«, sagte Richard. »Der Blazer, der ganz hinten im Schrank hängt. Probier ihn an, ja? Du kannst dir auch eine von meinen Krawatten nehmen. Nur für den Fall, dass jemand hereinkommt. Dann sagst du, du kämest von Saint Louis Country Day und wärst auf Zeitungsaustausch hier. Das passiert zwei- oder dreimal im Jahr – Jungen von dort kommen hierher, Jungen von hier fahren dorthin, um an der Zeitung der anderen Schule mitzuarbeiten.« Er ging zur Tür. »Ich komme vor dem Abendessen zurück und sehe nach, wie dir’s geht.«
Innerhalb weniger Minuten wurde es im Nelson House völlig still. Von Richards Fenster aus sah Jack hinter den großen Fenstern der Bibliothek zwei Jungen an Schreibtischen sitzen. Niemand bewegte sich über die Pfade oder über das steife braune Gras. Eine durchdringende Glocke markierte den Beginn des Nachmittagsunterrichts. Jack streckte die Arme aus und gähnte. Ein Gefühl der Sicherheit kehrte in ihn zurück – was ihn umgab, war eine Schule mit all ihren vertrauten Ritualen: Glocken, Unterrichtsstunden, Basketballtraining. Vielleicht war es möglich, einen weiteren Tag hier zu bleiben; vielleicht war es sogar möglich, von einem der Telefone in Nelson House aus seine Mutter anzurufen. Und bestimmt war es möglich, etwas Schlaf nachzuholen.
Jack ging an den Schrank und fand den Blazer dort, wo er nach Richards Angaben hängen
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