Der Talisman
macht ein paar Liegestütze‹, und rauchte seine Zigarette. Kein Zählen, kein Rhythmus, jeder tat, was er wollte.
Und danach hieß es, ›Okay, lauft ein bisschen herum‹. Er sah irgendwie wüst aus. Ich glaube, ich werde mich morgen bei Trainer Frazer beschweren.«
»An deiner Stelle würde ich mich weder bei ihm noch beim Direktor beschweren«, sagte Jack.
»Ah, ich verstehe«, sagte Richard. »Mr. Dufrey ist einer von ihnen. Von den Leuten aus der Region.«
»Oder er arbeitet für sie.«
»Siehst du denn nicht, dass du alles in dieses Schema zwängen kannst? Alles, was irgendwie schief läuft? Das ist zu einfach – auf diese Weise kannst du alles erklären. Das ist ein Anzeichen von Überspanntheit. Du schaffst Zusammenhänge, die es nicht gibt.«
»Und siehst Dinge, die es nicht gibt.«
Richard zuckte die Achseln, und trotz der Sorglosigkeit seiner Geste wirkte sein Gesicht elend. »Du sagst es.«
»Moment mal«, sagte Jack. »Weißt du noch, dass ich dir von dem Gebäude erzählte, das in Angola, New York, zusammengestürzt ist?«
»Die Rainbird Towers.«
»Was für ein Gedächtnis! Ich glaube, an diesem Unglück war ich schuld.«
»Jack, du bist …«
Jack sagte: »Verrückt, ich weiß. Sag mal, würde jemand auf den Alarmknopf drücken, wenn ich hinausginge und mir die Abendnachrichten ansähe?«
»Wohl kaum. Die meisten Jungen sitzen jetzt sowieso an ihren Hausaufgaben. Warum?«
Weil ich wissen möchte, was um uns herum passiert, dachte Jack, sprach es aber nicht aus. Hübsche Feuerchen, reizende kleine Erdbeben -Hinweise darauf, dass sie kommen. Dass sie es auf mich abgesehen haben. Auf uns.
»Ich brauche Tapetenwechsel«, sagte Jack und folgte Richard durch den wäßriggrünen Flur.
Einunddreißigstes Kapitel
Thayer geht zum Teufel
1
Jack spürte die Veränderung als erster und begriff, was geschehen war; es war bereits vorher geschehen, als Richard noch fort war, und er hatte ein Gefühl dafür. Das dumpfe Stampfen von Blue Oyster Cult und »Tattoo Vampire« hatte aufgehört. Das Fernsehen im Gemeinschaftsraum, aus dem anstelle der Nachrichten eine Folge von Hogan’s Heroes zu hören gewesen war, war verstummt.
Richard drehte sich zu Jack um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
»Das gefällt mir nicht, Gridley«, kam ihm Jack zuvor. »Die Buschtrommeln haben aufgehört. Es ist zu ruhig.«
»Ha-ha«, sagte Richard dünn.
»Richard, kann ich dich etwas fragen?«
»Ja, natürlich.«
»Hast du Angst?«
Richards Gesicht verriet, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als sagen zu können: Nein, natürlich nicht – um diese Tageszeit ist es immer ruhig in Nelson House. Leider war Richard völlig außerstande zu lügen. Der liebe alte Richard. Jack fühlte eine Welle von Zuneigung in sich aufsteigen.
»Ja«, sagte Richard, »ich habe ein bisschen Angst.«
»Kann ich dich noch etwas fragen?«
»Ich denke schon.«
»Warum flüstern wir beide?«
Richard betrachtete ihn lange Zeit, ohne etwas zu erwidern. Dann setzte er sich auf dem grünen Flur wieder in Bewegung.
Die Türen zu den anderen Zimmern standen entweder offen oder waren angelehnt. Jack stellte fest, dass ihm durch die halboffene Tür von Zimmer 4 ein sehr vertrauter Geruch entgegenschlug; er stieß die Tür mit spitzen Fingern vollends auf.
»Wer raucht hier Pot?« fragte Jack.
»Was?« erwiderte Richard fassungslos.
Jack schnüffelte hörbar. »Riechst du es nicht?«
Richard kam zurück und blickte in das Zimmer. Beide Leselampen waren eingeschaltet. Auf einem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch, ein Buch über Schwermetalle auf dem anderen. Poster schmückten die Wände: die Costa del Sol, Sam und Frodo auf dem Weg über die schrundigen und rauchenden Ebenen von Mordor zu Saurons Burg, Eddie Van Haien. Aus Kopfhörern, die auf dem aufgeschlagenen Band Schwermetalle lagen, drang leise blecherne Musik.
»Wenn du schon einen Hinauswurf riskierst, indem du einen Freund unter deinem Bett schlafen lässt, dann werden sie dir für Potrauchen wohl nicht nur einen Klaps aufs Handgelenk geben, oder?« sagte Jack.
»Natürlich wird man dafür relegiert.« Richard betrachtete den Joint wie hypnotisiert, und Jack fand, dass er bestürzter und fassungsloser aussah als je zuvor, sogar bestürzter und fassungsloser als beim Anblick der abheilenden Brandwunden zwischen Jacks Fingern.
»Nelson House ist leer«, sagte Jack.
»Mach dich nicht lächerlich!« Richards Stimme war
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