Der Talisman
irgendwie scheint es das zu sein, was ich jetzt wirklich sehen will; eine widerwärtige Zwangshandlung, ungefähr so, als bisse man in eine Zitrone oder führe mit den Fingernägeln über eine Schiefertafel oder kratzte mit einem Messer auf dem Porzellan eines Waschbeckens.
»Das Rauschgift nimmt immer mehr überhand«, sagte Richard in gespenstischem Vortragston. »Erst vorige Woche habe ich in The New Republik einen Artikel über das Anwachsen des Drogenkonsums gelesen. Jack, die Leute da draußen könnten unter Rauschgift stehen! Sie könnten Kokain mit Äther geschnupft haben! Sie könnten …«
»Komm, Richard«, sagte Jack leise.
»Ich bin nicht sicher, ob ich die Treppe schaffe«, sagte Richard leicht quengelnd. »Vielleicht ist mein Fieber zu hoch zum Treppensteigen.«
»Versuch’s auf die gute alte Thayer-Manier«, sagte Jack und führte ihn zur Treppe.
6
Als sie den Treppenabsatz im ersten Stock erreicht hatten, fluteten Geräusche in die glatte, fast atemlose Stille, die in Nelson House geherrscht hatte.
Draußen knurrten und bellten Hunde – es klang, als wären es jetzt nicht nur Dutzende, sondern Hunderte. Die Glocken in der Kapelle begannen plötzlich und unkontrolliert zu läuten.
Die Glocken machten die Hunde, die auf dem Innenhof hin und her rannten, vollends verrückt. Sie fielen übereinander her, wälzten sich im Gras, das zottig, ungepflegt und verunkrautet auszusehen begann, und stürzten sich auf alles, was in Reichweite ihrer Mäuler war. Jack sah, wie einer eine Ulme attackierte. Ein anderer stürzte sich auf die Statue von Eider Thayer, und als sein zubeißendes Maul auf die massive Bronze traf, spritzte Blut umher.
Angewidert wendete Jack sich ab. »Komm, Richard«, sagte er.
Richard kam bereitwillig mit.
7
Der erste Stock war ein Durcheinander von umgestürzten Möbeln, zerbrochenen Fensterscheiben, Ballen von Polstermaterial, Schallplatten, die offenbar herumgeworfen worden waren wie Frisbee-Scheiben, aus den Schränken gerissenen Kleidungsstücken.
Der zweite Stock war voller Dampf und feuchtheiß wie ein tropischer Regenwald. Als sie sich der Tür näherten, die die Aufschrift DUSCHEN trug, erreichte die Wärme Sauna-Niveau. Der Dunst, der ihnen auf der Treppe in dünnen Schwaden entgegengekommen war, war hier ein fast undurchsichtiger Nebel.
»Bleib hier«, sagte Jack. »Warte auf mich.«
»Okay, Jack«, sagte Richard friedlich; er hob seine Stimme so weit, dass sie die prasselnden Duschen übertönte. Seine Brille war beschlagen, aber er unternahm keinen Versuch, sie abzuwischen.
Jack stieß die Tür auf und trat ein. Feuchte Hitze schlug ihm entgegen. Schweiß und Dampfschwaden durchnässten seine Kleidung. Der gekachelte Raum war erfüllt vom Dröhnen und Trommeln des Wassers. Alle zwanzig Duschen waren aufgedreht, und die Wasserstrahlen aus allen zwanzig Duschen waren auf einen Haufen Sportgeräte in der Mitte des Raums gerichtet. Das Wasser konnte zwar durch diesen verrückten Haufen sickern, aber nur langsam; der Raum war überflutet. Jack zog die Schuhe aus und machte die Runde durch den Raum, glitt zwischen den Duschen hindurch, um sich möglichst trocken zu halten, und auch, um sich nicht zu verbrühen – wer immer die Duschen angestellt haben mochte, hatte offenbar die Kaltwasserhähne nicht angerührt. Er drehte alle Hähne zu, einen nach dem anderen. Er hatte keinerlei Anlass, das zu tun, nicht den geringsten, und er machte sich Vorwürfe, dass er auf diese Weise Zeit vergeudete, die er eigentlich dazu benutzen musste, sich auszudenken, wie sie hier herauskamen – aus Nelson House und aus dem Bereich der Thayer School –, bevor die Axt niederfuhr.
Keinen Anlass, ausgenommen vielleicht den, dass Richard nicht der einzige war, dem es darum ging, im Chaos Ordnung zu schaffen und aufrechtzuerhalten.
Er kehrte auf den Flur zurück, und Richard war verschwunden.
»Richard?« Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
Keine Antwort. »Richard!«
Der Geruch von verschüttetem Kölnisch Wasser hing in der Luft, betäubend schwer.
»Richard, wo zum Teufel steckst du?«
Richards Hand fiel auf Jacks Schulter, und Jack schrie auf.
8
»Ich weiß gar nicht, warum du so geschrien hast«, sagte Richard später. »Ich war es doch nur.«
»Ich bin ein bisschen nervös«, sagte Jack matt.
Sie saßen im zweiten Stock im Zimmer eines Jungen mit dem melodischen Namen Albert Humbert. Richard erzählte ihm, dass Albert Humbert,
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