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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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den Spiegel und einige der gegliederten Geldstäbchen beiseite. Seine Finger schlossen sich um das, was er suchte, und brachten es heraus. Es war die Münze, die ihm Hauptmann Farren gegeben hatte, die Münze mit der Königin auf der einen und dem Greif auf der anderen Seite. Er hieb sie auf den Tresen, und das sanfte Licht des Raums fing sich im zarten Profil von Laura DeLoessian – und wieder erfüllte ihn Staunen über die Ähnlichkeit dieses Profils mit dem seiner Mutter. Haben sie einander von Anfang an so ähnlich gesehen? Oder sehe ich nur mehr Ähnlichkeit, weil ich öfter an sie denke? Oder bringe ich sie tatsächlich irgendwie näher zusammen, mache eins aus ihnen?
    Während sich Jack dem Tresen näherte, wich der alte Mann noch weiter zurück; es sah aus, als verschwände er am liebsten durch die Rückwand des Gebäudes. Seine Worte wurden zu einer hysterischen Flut. Doch als Jack die Münze auf den Tresen hieb wie ein Schurke in einem Western, der einen Drink verlangt, brach der alte Mann plötzlich ab. Er starrte auf die Münze, seine Augen weiteten sich, seine nassen Mundwinkel zuckten. Seine geweiteten Augen hoben sich auf Jacks Gesicht und sahen ihn jetzt zum ersten Mal an.
    »Jason«, flüsterte er mit zitternder Stimme. Das schwache Gestammel war verschwunden. Jetzt zitterte die Stimme nicht mehr vor Angst, sondern vor Ehrfurcht. »Jason!«
    »Nein«, sagte er. »Ich heiße …« Dann brach er ab; er begriff, dass das Wort, das in dieser seltsamen Sprache herauskommen würde, nicht Jack war, sondern …
    »Jason!« rief der alte Mann und fiel auf die Knie. »Jason, du bist gekommen! Du bist gekommen, und alles wird gut, ja, alles wird gut, alles und jedes wird gut!«
    »He«, sagte Jack. »He, was soll das …«
    »Jason! Jason ist gekommen, und die Königin wird gesund, und alles und jedes wird gut!«
    Jack, der weniger darauf gefasst war, diese tränenreiche Anbetung hinzunehmen, als mit der Aufregung und dem Entsetzen des alten Stationswärters fertig zu werden, wandte sich zu Richard um – aber von ihm kam keine Hilfe. Richard hatte sich links neben der Tür auf dem Fußboden ausgestreckt und war entweder eingeschlafen oder spielte die Rolle eines schlafenden Menschen verdammt gut.
    »Ach, Scheiße!« murmelte Jack.
    Der alte Mann lag auf den Knien, plapperte und weinte. Die Situation verließ rasch die Bereiche des lediglich Lächerlichen und stieß in die kosmischer Komik vor. Jack fand eine Klappe und trat hinter den Tresen.
    »Erhebe dich, du guter und getreuer Diener«, sagte Jack. Hatten Christus oder Buddha je vor solchen Problemen gestanden? »Auf die Füße, Mann.«
    »Jason! Jason!« schluchzte der alte Mann. Sein weißes Haar bedeckte Jacks sandalenbekleidete Füße, als er sich über sie beugte und sie zu küssen begann – und es waren durchaus keine kleinen Küsse, sondern tüchtige Schmatzer von der guten alten Art. Jack begann hilflos zu kichern. Er hatte es geschafft, Illinois hinter sich zu lassen, und nun waren sie in einer baufälligen Station mitten in einem großen Getreidefeld, das kein Weizen war, irgendwo im Grenzland, Richard schlief neben der Tür, und dieser seltsame alte Mann küsste ihm die Füße, und sein Bart kitzelte.
    »Erhebe dich!« schrie Jack kichernd. Er versuchte zurückzutreten, stieß jedoch gegen den Tresen. »Erhebe dich, du getreuer Diener! Erhebe dich auf deine vermaledeiten Füße, steh auf, es reicht!«
    »Jason!« Schmatz! »Alles wird gut!« Schmatzschmatz!
    Und alles und jedes wird gut, dachte Jack verrückterweise und kicherte wieder, als der alte Mann seine Zehen küsste.
    Schmatz-schmatz-schmatz.
    Oh, Schluss damit, ich halte es wirklich nicht mehr aus.
    »STEH AUF!« brüllte er mit höchster Lautstärke, und endlich stand der alte Mann vor ihm, zitternd und weinend, nicht imstande, Jack in die Augen zu sehen. Aber seine erstaunlich breiten Schultern hatten sich ein wenig gehoben, wirkten nicht mehr gebrochen, und Jack war auf unerklärliche Art froh darüber.
     
    5
     
    Es dauerte eine Stunde oder länger, bis es Jack gelang, mit dem alten Mann ein zusammenhängendes Gespräch zu führen. Sie fingen an, miteinander zu reden; doch dann verfiel Anders, der von Beruf Stallbursche war, wieder in eine seiner O-Jason-mein-Jason-wie-herrlich-bist-du-Touren, und Jack musste ihn beruhigen, so schnell er konnte – auf jeden Fall, bevor die Fußküsserei wieder losging. Aber Jack mochte den alten Mann und empfand Mitgefühl für ihn. Um das zu

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